Zum anderen erkennen wir auf allen Ebenen einen profunden Prozess der Verinnerlichung. Zu diesem Prozess gehört die Art,
•wie wir unsere Aufmerksamkeit zuwenden (wir richten den Strahl der Aufmerksamkeit zurück auf das beobachtende Selbst),
•wie wir kommunizieren (wir bewegen uns von Schuldzuweisungen zum Dialog – das heißt, wir sorgen dafür, dass das System sich selber wahrnimmt),
•wie wir organisieren (von Befehl und Kontrolle zu einem inneren Ort, an dem wir uns selbst aus der Perspektive unserer Stakeholder sehen) und
•wie wir koordinieren (von der sichtbaren und unsichtbaren Hand zu einem System, das sich selbst fühlen und sehen kann).
Worauf läuft es hinaus, wenn man diese beiden Dinge – den Prozess der Öffnung und den Wandel des Bewusstseins bzw. die Veränderung der Aufmerksamkeit in Richtung Verinnerlichung – zusammennimmt? Was genau geschieht mit uns, wenn wir uns auf der Matrix nach unten bewegen? Mit einem Wort gesagt: Inversion. Wir durchlaufen einen Prozess der individuellen, beziehungsmäßigen, institutionellen und systemischen Umstülpung oder Umkehrung.
Inversion ist der Prozess, bei dem man etwas von innen nach außen und von außen nach innen stülpt. Beides kann gleichzeitig geschehen.
•Der »Von-innen-nach-außen-Teil« ist das Öffnen: Man öffnet die Grenze und bringt, was sich gewohnheitsmäßig im Innern befand, nach außen.
•Der »Von-außen-nach-innen-Teil« ist die Verinnerlichung: Wir werden uns der tiefen wechselseitigen Verbundenheit mit der uns umgebenden Welt bewusst.
Wenn wir das eine ohne das andere tun, wenn wir uns für das Außen öffnen, ohne unsere Fähigkeit zur Verinnerlichung zu fördern, erzeugen wir Stress und Gegenreaktionen, die in Absencing resultieren können (zum Beispiel die Flüchtlingssituation in Deutschland und Europa).
Wenn man die Matrix der sozialen Evolution in vertikaler Richtung liest, erkennt man den Prozess der Verinnerlichung bei allen vier Spalten:
•Bei der individuellen Inversion geht es um die Öffnung von Denken, Herz und Willen im Sinne eines Zugangsprozesses zu den tieferen und schlummernden Ebenen der menschlichen Intelligenz.
•Bei der beziehungsmäßigen Umkehrung geht es um Gespräche, die bewirken, dass ein System sich selbst sieht und spürt (Dialog).
•Bei der institutionellen Umstülpung geht es um die Entdeckungsreise, durch die wir unsere Institutionen öffnen und mit dem Wissen verbinden, das im größeren Ökosystem um uns herum eingebettet ist (ego zu öko).
•Und bei der systemischen Umkehrung geht es um die Entwicklung unserer »Governance«, unserer Steuerung und Koordination – von den alten Mechanismen (Zentralisierung und Wettbewerb) zu den neuen (Gestaltung sozialer Felder, die sich selbst sehen und fühlen).
Nehmen Sie sich einen Augenblick Zeit, um darüber nachzudenken, wo Sie in Ihrem eigenen Kontext erkennen können, dass diese Umstülpung oder Umkehrung geschieht, indem Sie Bild 5 betrachten, einschließlich des Goethe-Zitats in der zugehörigen Legende (Goethe 1823, S. 38): »Jeder neue Gegenstand, wohl beschaut, schließt ein neues Organ in uns auf.«
Beobachtung 5: Die Aktivierung globaler sozialer Felder
Die fünfte Beobachtung betrifft das Phänomen der Aktivierung globaler sozialer Felder. Bis 2015 betrug die Zahl der Studierenden, die für meinen Kurs »U.School« am Massachusetts Institute of Technology (MIT) eingeschrieben waren, etwa 75, nur einige Monate später, Ende 2015, hatte der »U.Lab-Kurs« 75.000 eingeschriebene Teilnehmende aus 185 Ländern. (Heute, im Jahr 2020, sind es bereits doppelt so viele!) Zusammen haben sie mehr als 400 Prototypinitiativen erschaffen sowie mehr als 560 »Hubs«1 und mehr als tausend selbstorganisierte Case Clinic Circles hervorgebracht.
Was erklärt das Anwachsen der Gruppengröße von 75 auf 75.000? Ein Faktor war, dass der Kurs von einem MIT-Unterrichtsraum auf die offene edx-Plattform umgezogen ist und zu einem offenem Massen-Onlinekurs (Massive Open Online Course, MOOC) wurde. Der andere und wichtigere Faktor ist die Verbindung und gemeinsame Ausrichtung dieser Plattform mit einer größeren bewusstseinsbasierten Veränderungsbewegung, die von vielen Orten auf der ganzen Welt ausgeht. Im Laufe der letzten 10 Jahre habe wir eine Reihe der profunden Veränderungsinitiativen unterstützt, die Teil dieser Bewegung sind. (Einige neuere Fallstudien finden sich weiter unten in diesem Vorwort.)
Einer Umfrage zufolge, die wir am Ende des Kurses durchführten, empfanden 93 Prozent der Befragten ihre Erfahrung als »inspirierend« (60 Prozent) oder »lebensverändernd« (33 Prozent), und 62 Prozent der Teilnehmenden, die keine Erfahrung mit kontemplativen Praktiken hatten, als sie zum U.Lab kamen, haben solche Praktiken erlernt und entwickelt.
Ein Drittel der Teilnehmenden machte »lebensverändernde« Erfahrungen? Wie ist das in einem lediglich sieben Wochen umfassenden Onlinekurs möglich? Die Antwort lautet: Es ist nicht möglich. Das U.Lab ist nicht einfach nur ein Onlinekurs. Es ist eine gemischte Lernumwelt aus O2O-Tools (Online-to-offline-Praxisanteilen), die sich zusammen mit einer im Entstehen begriffenen Bewegung entwickelt. Es funktioniert nur, weil es in eine bereits existierende größere globale Bewegung eingebettet ist. Aber: In vielerlei Hinsicht ist es eine noch schlummernde Bewegung – sie weiß noch nicht ganz, dass sie um ihre Existenz weiß.
Und hier kommt das U.Lab (und die Theorie U) ins Spiel. Mein Leben ist reich an vielen profunden Erfahrungen – und viele davon finden sich in diesem Buch wieder. Doch von all diesen Erfahrungen ist die neuere Entwicklung des U.Lab etwas Besonderes, weil sie kollektiver, globaler und radikaler ist, was die Verbindung mit höheren Zukunftsmöglichkeiten betrifft, als alles, was ich zuvor erlebt habe. Dieses Buch beginnt mit einer Geschichte über das Feuer auf dem Bauernhof meiner Eltern (Kapitel 1). Mit der Geschichte des U.Lab schließt sich tatsächlich der Kreis dieser ganzen Reise, die mit dem Feuer auf dem Bauernhof begann.
Lassen Sie mich das an Bild 6 als Bezugspunkt erklären.
Darin erfasst Kelvy die abschließende U.Lab-Live-Session vom 17.12.2015, eine gemeinsame Veranstaltung des MIT in Cambridge, MA, mit Edinburgh, Schottland, und Sao Paulo, Brasilien, an der sogenannte Hub-Gemeinschaften aus der ganzen Welt teilnahmen. Dieses Bild fängt die Reise ein, auf der wir uns befinden – es ist die Reise des U.Lab, aber es ist auch die Reise dieses Buches und der Bewegung, die dieses widerspiegelt:
Linke Seite: Woher wir kommen – wir bringen verschiedene Bewegungen und Strömungen zusammen, einschließlich Zivilgesellschaft, Achtsamkeit und Aktionsforschung, um gemeinsam die tieferen Herausforderungen unserer Zeit in Angriff zu nehmen (die dreifache Kluft);
Mitte: Unsere derzeitige Arbeit – wir kultivieren den Boden des sozialen Feldes, wobei es im Wesentlichen darum geht, den Bewegungsprozess von 1) Leugnung zu 2) Debatte und schließlich zu 3) Dialog zu beschleunigen, indem wir den inneren Ort kultivieren, von dem aus wir handeln.
Rechte Seite: Wohin wir gehen – das entstehende Feld der Zukunft, mit einer erwachenden Ego-zu-öko-Bewegung an der Wurzel.
Wenn Sie sich die linke Seite des Bildes