Es war natürlich vollkommen irrational, das Geschenk noch heute zu ihr zu bringen. Dazu wäre ein andermal auch noch Zeit gewesen. Doch den morgigen Tag würde er wohl oder übel mit seinem Vater und seiner Stiefmutter verbringen müssen, und er konnte nicht garantieren, dass seine Stimmung danach noch salonfähig sein würde. Also doch lieber heute. An Heiligabend hatte er nie viel vor. Wenn er nicht arbeiten musste, ging er entweder bei gutem Wetter wandern oder machte es sich bei schlechtem Wetter – wie heute – mit ein paar guten Filmen auf der Couch bequem.
Als er den Abzweig zu dem Gut nahm, auf dem Janna mit ihrer Familie lebte, setzte zum wiederholten Male an diesem Abend leichter Nieselregen ein. Weiße Weihnachten waren weit und breit nicht in Sicht. Das Thermometer zeigte vier Grad an, für den morgigen ersten Feiertag hatten die Wetterfrösche bis zu neun Grad und weiteren Regen vorhergesagt.
Um sich nicht im Schlamm festzufahren, parkte Markus seinen schwarzen Z3 diesmal nicht auf dem Feldweg neben dem kleinen Gesindehaus, so wie er es zuvor immer getan hatte. Stattdessen stellte er den Wagen auf einem kleinen Wandererparkplatz ab und ging die letzten knapp zweihundert Meter zu Fuß.
Das riesige Grundstück war an drei Seiten von mannshohen Hecken umgeben, lediglich zur Straße hin stand noch die vermutlich bereits jahrhundertealte Bruchsteinmauer mit dem schmiedeeisernen Tor, das wie immer weit und einladend offen stand. Links und rechts der Zufahrt gab es zwei antik wirkende Lampen, in denen moderne Energiesparbirnen leuchteten. Doch heute fielen sie fast gar nicht auf.
Markus blieb vor dem Tor stehen und kam sich fast vor wie in eine andere Welt versetzt. Die Mauer war mit einer warm glitzernden Lichterkette und Tannengirlanden geschmückt, in der goldene und silberne Kugeln und Ornamente das Licht der Lämpchen reflektierten. Links vor dem Tor stand ein ebenso geschmückter und beleuchteter mannshoher Tannenbaum.
Obgleich er wie immer vorsichtig darauf bedacht war, von niemandem gesehen zu werden, trat Markus nun doch durch das Tor und sah sich eingehend um.
Links stand das kleine Gesindehaus, in dem Janna mit den Kindern bisher gewohnt hatte. Die Fenster waren mit Lichterketten, Pyramiden und Fensterbildern dekoriert. Die Dachrinne zierten beleuchtete Eiszapfen. Auch einige Büsche und Bäumchen ringsum wurden durch LED-Lichterketten erleuchtet und verwandelten den Hof trotz fehlenden Schnees in ein Winterwunderland. Neben der Eingangstür des Gesindehauses gab es einen Korb mit weihnachtlichem Gesteck, daneben ein grinsendes Rentier aus bemaltem Steingut. Ein großes ovales, ganz sicher von den Kindern gebasteltes und bemaltes Schild aus Salzteig an der Tür verkündete Frohe Weihnachten.
Da im Gesindehaus weiter kein Licht brannte, ging Markus linksherum, auf die Rückseite des Grundstücks, und von dort aus zum großen Gutshaus. Janna hatte ihm erzählt, dass sie vor dem Jahresende dort einziehen und mit ihren Eltern die Wohnungen tauschen würde. Er selbst hatte im Oktober bei der Renovierung eines der Kinderzimmer geholfen. Allerdings nicht ganz freiwillig und nur, weil ihm eine anderweitige Beschäftigung gefehlt hatte, während er eine Zeit lang den Personenschutz für Janna übernommen hatte. Er nahm an, dass der Umzug mittlerweile über die Bühne gegangen war. Aber selbst wenn nicht, würde doch bestimmt die ganze Familie gemeinsam Weihnachten feiern. Janna war, im Gegensatz zu ihm, ein absoluter Familienmensch und genoss es, Zeit im Kreis ihrer Lieben zu verbringen. Allerdings hatte sie, anders als er, eine Familie, die man tatsächlich so nennen konnte.
Auch das Gutshaus war rundum mit Lichtern, Tannengirlanden, Weihnachtsschmuck und allerlei Krimskrams geschmückt. Wenn er diesen überschwänglichen Tribut an das Christfest mit der einfachen Weihnachtspyramide verglich, die er alljährlich in seinem Wohnzimmerfenster aufstellte, kam er sich wirklich wie auf einem anderen Planeten vor. Was das Gefühl des Unwohlseins prompt wieder verstärkte.
Als Kind hatte er zu Weihnachten höchstens einen aufklappbaren künstlichen Weihnachtsbaum gekannt, falls seine Mutter überhaupt daran gedacht hatte. Später dann, als sein Vater ihn bei sich aufgenommen hatte, lernte er den gehobenen Chic kennen, mit dem seine Stiefmutter Agnetta das Haus zu dekorieren pflegte. Alles war stets farblich aufeinander abgestimmt und von exquisiter Qualität gewesen, der Tannenbaum immer eine Nordmanntanne ohne den geringsten Makel. Auch morgen, bei seinem Feiertagspflichtbesuch, würde er ein perfekt gestyltes Haus in Weihnachtsstimmung vorfinden. Nicht, dass er dagegen etwas einzuwenden hatte. Agnetta war eine nette Person, er mochte sie und war ihr dankbar, dass sie sich um den verwilderten und rebellischen Jungen gekümmert hatte, der er gewesen war.
Doch als Markus seitlich im Schatten eines Strauchs an eines der großen Wohnzimmerfenster trat, versetzte ihm das Bild, das sich ihm bot, einen heftigen Stich in die Magengrube. Zuerst fiel ihm der zimmerhohe Tannenbaum ins Auge. Perfekt geformt schien er nicht zu sein, doch das konnte man unter den Unmengen von bunten Kugeln, Girlanden, Ornamenten und Lichterketten kaum mehr erkennen. Echtes Lametta, nicht dieses flatterige, hässliche Zeug, das oftmals in der Bonner Altstadt die Weihnachtsdeko vervollständigte, reflektierte das Licht der elektrischen Kerzen. Markus, geschult darin, Details wahrzunehmen, entdeckte sogar Baumschmuck aus echten Lebkuchen sowie selbst gebastelte Sterne und Laubsägearbeiten. Nichts, aber auch gar nichts schien hier zusammenzupassen. Es sah aus, als sei der gesammelte Weihnachtsbaumschmuck von mehreren Generationen bunt gemischt über die Zweige des Baumes verteilt worden. Die Gestecke und Girlanden, die den übrigen Raum zierten, waren offenbar ebenso kunterbunt zusammengewürfelt. Dennoch machte alles einen stimmigen, heimeligen Eindruck auf ihn. Wohl nicht zuletzt, weil die Familie sich auf Couch und Sesseln ausgebreitet hatte und mitten in der Bescherung steckte. Fünf Erwachsene und die beiden neunjährigen Blondschöpfe waren dabei, Geschenke aufzureißen, Gegenstände zu bewundern, sich gegenseitig zu umarmen und zu herzen. Gelächter mischte sich mit der weihnachtlichen Chormusik aus den Lautsprechern, die Markus nur deshalb wahrnehmen konnte, weil eines der Fenster gekippt war.
Länger als er ursprünglich vorgehabt hatte, blieb er beim Fenster stehen und beobachtete Janna und ihre Familie. Zum ersten Mal sah er sie alle zusammen. Jannas Eltern, die Kinder und Felicitas, die jüngere Schwester, hatte er bereits gesehen. Der rotblonde sportliche Mann, der die Runde vervollständigte, konnte nur Jannas älterer Bruder Frank sein. Die Ähnlichkeit zu seinem Vater fiel deutlich ins Auge. Auch die beiden Schwestern ähnelten einander, obgleich Felis Lockenmähne sich lang und blond um ihr hübsches Gesicht schmiegte, während Jannas etwa schulterlange Locken denselben intensiven kupferroten Farbton hatten wie die Haare ihrer Mutter. Linda Berg war auch mit Ende fünfzig noch eine attraktive Frau und strahlte eine heitere Herzlichkeit aus, die sie ebenso wie die Haarfarbe ihrer Tochter vererbt hatte. Die Locken hingegen stammten wohl eher von der Vaterseite. Allerdings war Bernhard Berg mittlerweile ergraut.
Die Zwillinge hatte Janna vor fünf oder sechs Jahren zu sich genommen, nachdem ihre Cousine bei einem Autounfall ums Leben gekommen war. Markus hatte das Dossier über Janna Berg seinerzeit, als er erstmals mit ihr hatte zusammenarbeiten müssen, mit wenig Interesse gelesen. Inzwischen wusste er natürlich mehr über sie. Einiges hatte Janna ihm erzählt, anderes hatte er später in ihrer Akte nachgelesen, um sie besser einschätzen zu lernen.
Ganz schlau wurde er dennoch nicht aus ihr. Eine Frau wie sie hatte in seinem Berufsfeld, dem Geheimdienst, nichts zu suchen. Die Einsätze, in die sie immer wieder verwickelt wurde, waren nicht selten lebensgefährlich. Dennoch zog sie sich nicht zurück, und mittlerweile hatte Markus sich sogar ein wenig an sie gewöhnt. Und um der Gefahr zu entgehen, von seinem Vorgesetzten Walter Bernstein früher oder später zwangsweise einen festen Partner aufs Auge gedrückt zu bekommen, wollte er Janna weiterhin ab und zu für kleinere Handreichungen und einfache Missionen in seine Arbeit einbeziehen. Gerade erst vor einer Woche hatten sie ein gemeinsames Abenteuer durchlebt.
Auch wenn er nicht recht wusste, wie sie es immer wieder schaffte, aber sie war schon mehrfach ausgesprochen nützlich gewesen, wenn es darum ging, Zielpersonen dingfest zu machen oder sich aus brenzligen Situationen zu befreien. Doch wenn er sie so im Kreis ihrer Familie betrachtete, zweifelte er sehr an seinem Entschluss. Gleichzeitig