»O doch, das ändern wir sofort.« Entschlossen sah Feli sich in der Küche um, offenbar auf der Suche nach etwas, womit sie Jannas Laune aufheitern konnte. Dann grinste sie. Mit wenigen Schritten war sie an einer Schublade und entnahm ihr zwei hölzerne Kochlöffel. Einen davon reichte sie der verdutzten Janna und drehte das leise vor sich hin dudelnde Radio auf volle Lautstärke. »Los, Janna, Gesangseinlage. So wie früher. Weißt du noch?«
Natürlich erinnerte sie sich. Als sie noch jünger gewesen waren, Feli gerade dreizehn oder vierzehn und Janna Anfang zwanzig, hatten sie oft lauthals die Songs im Radio mitgesungen und dabei wilde Tänze aufgeführt.
»Du bist ja verrückt.« Janna wollte ihrer Schwester den Löffel zurückgeben. Doch Feli drückte ihn ihr erneut in die Hand. »Keine Widerrede. Ha, wenn man vom Küssen spricht!«
Gerade ertönten die ersten Takte von Chers Shoop Shoop Song.
»Does he love me, I wanna know«, sang Feli fast genauso gut wie Cher selbst.
Janna verdrehte die Augen und fiel mit ein: »How can I tell, if he loves me so?«
Von da an sangen sie immer abwechselnd die Verse des Songs. Janna empfand es anfangs noch als albern, aber schon bald löste sich die düstere Wolke, die über ihr gehangen hatte, wie von Zauberhand auf und sie sang mit Begeisterung weiter. Feli stieß sie mit der Hüfte an und bald tanzten sie ausgelassen durch die Küche, die Kochlöffel als imaginäre Mikrofone nutzend. Bei jedem It’s in his kiss legten sie die Wangen aneinander und grinsten beim Singen wie zwei Teenager.
***
Markus hatte gewartet, bis es dunkel wurde, bevor er nach Rheinbach fuhr und seinen nachtschwarzen Z3 auf einem Wandererparkplatz etwa zweihundert Meter von dem Gut entfernt parkte, auf dem Janna mit ihren Kindern lebte. Das schmiedeeiserne Tor stand weit offen, der Hof, die Büsche und Beete ringsum waren bereits für das anstehende Frühjahr vorbereitet und herausgeputzt. Hier und da blühten Stiefmütterchen und Primeln. Das kleine ehemalige Gesindehaus auf der linken Seite, in dem Janna bis vor Weihnachten mit ihren beiden Pflegekindern gewohnt hatte, lag im Dunkeln. Sie hatte mit ihren Eltern die Wohnungen getauscht, um für sich und die Zwillinge mehr Platz zu haben. Ziemlich gut erinnerte er sich noch daran, dass er im Herbst dabei geholfen hatte, eines der zukünftigen Kinderzimmer zu tapezieren. Eigentlich hatte er nur als Personenschutz für Janna fungiert, doch mit etwas hatte er sich ja beschäftigen müssen.
Das Auto der Eltern stand weder im Hof noch in der offenen Garage, Jannas dunkelblauer Golf V parkte neben dem Eingang zum Gutshaus. Daneben stand ein neuer grasgrüner VW Polo mit den Buchstaben FB auf dem Nummernschild. Der gehörte vermutlich Jannas Schwester, wenn er die Initialen richtig interpretierte.
Vorsichtig schaute er sich um, immer darauf bedacht, dass niemand ihn sah. Als er die Seitentür erreichte, die vom Hof direkt in die Küche führte, drang durch ein gekipptes Fenster plötzlich schreiend laute Musik zu ihm nach draußen. Er erkannte sofort Chers Shoop Shoop Song. Neugierig trat er seitlich an das Fenster und linste hinein. Als er sah, was in der Küche vor sich ging, konnte er sich ein Schmunzeln nicht verkneifen.
In einer Stimmlage, die der Chers verblüffend ähnelte, sangen die beiden Schwestern lauthals den Song mit und hüpften ausgelassen in der Küche herum. Beim Refrain übernahm immer Janna das It’s in his kiss und Felicitas den Part That’s where it is. Fast so, als hätten sie das schon hundertmal geübt.
Je länger er zusah, desto merkwürdiger fühlte er sich. Dieser vollkommene Ausdruck von Lebensfreude, der von den beiden Frauen ausging, berührte eine Saite in ihm, die er normalerweise ignorierte. Nicht, dass er keinen Spaß am Leben hatte, aber eine derartige Ausgelassenheit hatte er selbst lange nicht mehr gespürt. Falls überhaupt.
Nicht zum ersten Mal empfand er sich als Eindringling in Jannas heile Welt. Manchmal fragte er sich, warum er sich nicht offen dafür aussprach, sie ein für alle Mal von der Liste der zivilen Hilfskräfte zu streichen. Oder warum sie das nicht längst selbst veranlasst hatte. Einmal war sie kurz davor gewesen, das wusste er. Damals, als eine irre Auftragskillerin sie beinahe mit einer Bombe in die Luft gejagt hätte. Doch Janna war erstaunlich widerstandsfähig und kam trotz aller Herausforderungen immer wieder auf die Füße.
Seine Zusammenarbeit mit ihr war einem Zufall entsprungen und hätte eigentlich eine einmalige Sache sein müssen. Inzwischen, so gestand er sich ein, hatte er sich daran gewöhnt, hin und wieder mit ihr gemeinsam in einen Einsatz geschickt zu werden. Sie waren Freunde geworden. Wie genau das vor sich gegangen war, konnte er sich nicht erklären. Es war einfach geschehen.
Als er sie nun so beim Singen und Tanzen mit ihrer Schwester beobachtete, stellte er fest, dass er sie tatsächlich ein ganz kleines bisschen vermisst hatte. Woran er selbst die größte Schuld trug, denn seit ihrem Treffen am zweiten Weihnachtsfeiertag im HellHole, dem gemütlichen Bonner Irish Pub, hatte er sich nicht mehr bei ihr gemeldet. Zunächst, weil er auf einen Auslandseinsatz geschickt worden war. Und dann, weil ... Er schob es darauf, dass sich einfach nicht die richtige Gelegenheit geboten hatte. Seine Arbeit hatte ihn sehr gefordert. Die Wochen waren nur so dahingeflogen. Er hatte einfach zu wenig Zeit, Freundschaften zu pflegen.
Janna sah jedenfalls nicht so aus, als wäre es ihr schlecht ergangen. So gelöst und ein wenig ausgeflippt hatte er sie überhaupt noch nicht erlebt. Sah man einmal von ihrem kleinen Gesangsduett auf der Heimfahrt von dem Einsatz im Schwarzwald im Dezember ab. Aber das war etwas vollkommen anderes gewesen.
Das Lied war inzwischen zu Ende und Jannas Schwester drehte die Lautstärke des Radios wieder auf ein normales Maß zurück. Die beiden Frauen kicherten aber noch immer vergnügt vor sich hin. Markus konnte nicht umhin zu bemerken, wie sehr sie sich trotz der unterschiedlichen Haarfarbe und Kleiderstile ähnelten.
Felicitas trug einen langen, wallenden Rock in diversen Blautönen, dazu schwarze Stiefel und eine knallblaue, sehr knapp sitzende Bluse mit gekrempelten Ärmeln. An ihren Ohren baumelten silberne Kreolen und ihr rechter Arm war dazu passend mit unzähligen Armreifen geschmückt.
Janna hingegen trug hauteng sitzende Jeans, die ein wenig abgeschabt wirkten, und einen engen dunkelbraunen Rollkragenpullover. Um ihren Hals lag ein schmales Silberkettchen mit einem sternförmigen Anhänger.
Beide Frauen waren eine Augenweide, jede auf ihre Weise, das war nicht zu leugnen. Wenn auch überhaupt nicht sein Typ. Also rein äußerlich schon, wobei ihm das leuchtende Kupferrot von Jannas Locken noch mehr zusagte als das satte Blond von Felicitas’ Haarschopf. Vielleicht lag es daran, dass Alexa ebenfalls blond war und ihm zuletzt gehörig auf den Geist gegangen war. Aber vom Typ Frau her war Janna ganz sicher nicht seine Kragenweite. Häuslich, in gewisser Weise mütterlich. Himmel, sie hatte zwei Pflegekinder im Alter von neun Jahren! Nett. Hilfsbereit. Normal.
Ihm fiel keine andere Beschreibung mehr ein, die seinen Gedankengang hätte unterstreichen können, denn seine Aufmerksamkeit wurde auf die Aktivitäten in der Küche gelenkt. Felicitas hatte offenbar eine SMS erhalten und war im Begriff, sich ihre blaue Jacke überzuwerfen.
Eilig verzog Markus sich um die Hausecke, damit sie ihn beim Verlassen des Hauses nicht bemerkte. Deshalb hörte er nur, wie sich die Seitentür öffnete.
»Mach’s gut Janna. Willst du wirklich nicht mitkommen? Jenny und Inken würden sich freuen, dich mal wiederzusehen.«
Was Janna darauf antwortete, war nicht zu verstehen.
»Na gut.« Felicitas lachte. »Genieß den ruhigen Abend. Bald hast du davon ganz viele am Stück. Aber vergiss nicht, dass wir noch zusammen shoppen gehen müssen. Bis dann. Ich ruf dich an!« Fröhlich summend ging sie zu ihrem Auto und fuhr kurz darauf schwungvoll vom Hof.
***
Während sie die Backutensilien zurück in die Schränke räumte, schmunzelte Janna vor sich hin. Ihre kleine Schwester hatte es schon immer verstanden, sie mit ihren verrückten Ideen zum Lachen zu bringen. Fast bedauerte sie es nun, nicht mit zu den Freundinnen gefahren zu sein. Ein bisschen Gesellschaft