Gerade in diesem Widerspruch zwischen der Verwendung des Kollektivnamens und der Abwesenheit der Herero spiegelt sich die grundlegende Ambivalenz in Seyfrieds Roman in Bezug auf die Darstellung der Afrikaner. Einerseits wird durch die häufige Verwendung der erlebten Rede ein unmittelbarer Zugang zum Bewusstsein der wenigen beschriebenen Herero-Figuren suggeriert. Ein solcher Zugang wird sehr früh im Roman anhand der Perspektive der Fokalisierungsfigur Petrus gezeigt, die stellvertretend für einen bestimmten Blickwinkel steht:
Petrus […] läuft auf dem heißen Sand durch den lichten Busch, vermeidet, ohne recht achtzugeben, die scharfkantigen Steine und die nadelspitzen Dornen und denkt dabei an Osona und das große Palaver. Wichtig ist die Häuptlingsnachfolge, das hat man auch überall den Deutschmännern erzählt, aber beim Palaver in der Oganda Osona wird es um etwas viel, viel Wichtigeres gehen. Um was es da geht, das hat den Deutji keiner gesagt, das sollen sie nicht wissen. Nur die schwarzen Menschen wissen, daß es um die große Angst und um die große Wut geht und um die gelben Dinger [d.h. um die Weißen]. Es geht um die Otjirumbu [d.h. um die gelben Dinger, die Weißen]. (Seyfried 2003: 21)
Die erlebte Rede, die eine auktoriale narrative Perspektive mit einer Figurenperspektive verschmelzen lässt (Fludernik 1993), erzeugt ein Gefühl der unvermittelten Nähe zur Erlebniswelt der Figuren. In dieser Textstelle bietet die erlebte Rede einen Zugang zur Welt der Herero, den die zeitgenössischen Deutschen nicht besitzen. Dementsprechend sagt der Autor in einem Interview, „Es geht mir um die Nähe zu dieser Zeit, auch in der Sprache und im Stil“ (Thomma 2003). Und somit liegt Loimeier (2004: 40) zum Teil falsch, wenn er behauptet, dass „die Leser […] nur durch die deutsche Brille vom Krieg in Namibia [erfahren]. Die andere Seite der Medaille – also die Perspektive der Nama und Herero – bleibt vollkommen ausgeblendet.“ Wird doch immer wieder eine, wenn auch künstliche afrikanische Sicht der Dinge in die Erzählung eingebaut.
Loimeiers Einschätzung ist aber zum Teil auch richtig. Denn andererseits wird durch die erlebte Rede bzw. die eigenen Aussagen der Herero-Figuren eine unüberwindbare Fremdheit generiert. Wie durch die soeben zitierte Stelle ersichtlich wird, stört der Einschub von nicht unmittelbar verständlichen Begriffen aus der Herero-Sprache oder die Verwendung ungewöhnlicher semantischer und syntaktischer Strukturen (z.B. „Deutji“, kindisch klingende Verdopplungen usw.) die angeblich mehr oder weniger direkte Vermittlung der Figurengedanken. Somit bleiben sie dem bzw. der Leser*in in dem Moment, in welchem er oder sie der afrikanischen Subjektivität am nächsten kommt.
Diesbezüglich merkt Habeck (2004) an:
[D]ie Schilderung erfolgt nicht mit dem Blick des Weißen (was wohl so sein muss), sondern bestätigt exakt die Erwartungshaltung, mit der man auf Safari geht, um eine seltene Spezies zu besichtigen. Seyfrieds Versuch, den schwarzen Blick zu kopieren, reproduziert das Klischee des Naturmenschen, also den einfachen Gegensatz von Zivilisation und Wildnis.
Vor allem mit Bezug nicht nur auf die Geschichtlichkeit der Ereignisse, sondern vielmehr auf das Geschichtsbewusstsein der fiktiven Herero wird eine unmessbare Ferne herbeigeführt. Seit der Niederlage am Waterberg ist laut einer der Figuren „der Mond einmal rund geworden und wieder ganz mager und noch einmal rund, und bald wird er wieder mager sein“ (Seyfried 2003: 574). Das Zeitbewusstsein der Herero-Figuren bleibt, so der Text, in einer zyklischen, d.h. nicht-linearen und daher vermeintlich primitiven Logik der natürlichen Welt verhaftet (vgl. Fabian 1983: 30; Ricoeur, Hg. 1975). Nur mit großer Mühe kann die Zeit bemessen werden: Die Figur Petrus „zählt so an die vierzig Sommer“ (Seyfried 2003: 21). Seyfrieds Herero-Figuren verharren in einem nicht ganz zeitlosen, doch nur partiell geschichtlich strukturierten Raum (vgl. Hermes 2009: 232–3). Daher die Ambivalenz der Darstellung: Der Roman gibt vor, den Herero-„Aufstand“ bis in die kleinsten geschichtstreuen Details dazustellen und lässt eine Art experientielle Nähe zu den Gegnern zu, schließt sie aber zugleich aus der Geschichtlichkeit der Geschichte aus. Das „afrikanische“ Afrika ist, wie bei Hegel (1961: 163), „kein geschichtlicher Weltteil, er hat keine Bewegung oder Entwicklung aufzuweisen.“ Die Geschichte Südwestafrikas wird „hier bloß an der Schwelle der Weltgeschichte vorgeführt“ (ebd.: 163) und bleibt letztendlich eine europäische Geschichte. Dem Afrikaner dagegen wird eine Teilhabe an jener Geschichte nicht gewährt; sein Wesen ist das eines „Geschichtslose[n] und Unaufgeschlossene[n], das noch ganz im natürlichen Geiste befangen ist“ (ebd.: 163). Die Herero werden somit in eine unüberbrückbare geschichtsphilosophische Ferne verbannt, die die Illusion der Erfahrungsnähe untergräbt. Die Erfahrungsnähe dient schließlich nur der epistemologischen Autorität der Erzählung, die es erlaubt, die Herero als historische Objekte (etwa nach dem Muster der „Geschichte und Gebräuche“, denen das Interesse Ettmanns gilt [Seyfried 2003: 37]) aus unmittelbarer Nähe zu kennen. Sie selbst treten nicht als historisch bewusste Subjekte auf und bleiben dem deutschen Publikum mentalitätstechnisch und geschichtsbegrifflich anhaltend fern. Es ist kein Zufall, dass es am Ende der Erzählung heißt: „Petrus blieb verschollen“ (ebd.: 592).
Somit kann Seyfried schließlich den Völkermord an den Herero bzw. Nama relativieren und als geschichtliches Faktum weitgehend verdrängen (Hermes 2009: 237–40). Das eventuell aufkommende Gefühl der historischen Schuld bzw. der damit einhergehenden Verantwortung in Anbetracht einer zwangsläufig gemeinsamen Geschichte kann dabei vollständig ausgeblendet werden. Die strukturierende Ambivalenz von Seyfrieds Romans, die ein künstliches Gefühl der Nähe erzeugt, um es dann in ein Gefühl der Distanz umzukehren, kann als Symptom der heute allseits herrschenden Ambivalenz Deutschlands gegenüber Afrika im Allgemeinen und Namibia im Besonderen gedeutet werden: Afrika und Europa rücken im Zuge der wachsenden Migrationsströme immer näher zusammen, Deutschland wird sichtbar „afrikanischer“, der gefühlte Abstand bleibt jedoch erhalten und wird in rechtsradikalen Diskursen zusätzlich betont. Die „Politik der Annäherung“ an Afrika seitens der Bundesregierung entpuppt sich lediglich als Strategie der „Fluchtursachenbekämpfung“ oder ganz einfach als „Fluchtbekämpfung“ (Dünnwald et al. 2017). Im Folgenden fungieren diese strukturierenden Ambivalenzen und Spannungen zwischen Geschichtstreue und erlebter Stimmung, zwischen narratologisch generierter Nähe und geschichtsphilosophischer Distanz als konzeptuelle Einfassung des theoretischen und methodologischen Rahmens der vorliegenden Untersuchung.
Die Studie widmet sich gegenwärtigen literarischen Diskursen zum Deutsch-Namibischen Krieg und anschließenden Genozid im damaligen Deutsch-Südwestafrika 1904 bis 1908 anhand mehrerer zwischen 1978 und 2016 veröffentlichten Romane. Im Gegensatz zum herrschenden Forschungsansatz, der sich vornimmt, die Beziehungen zwischen der historischen Vorlage und der literarischen Fiktion nachzuzeichnen, um die öffentliche Meinung bezüglich der „Aufarbeitung“ des damaligen Völkermords – vor allem im Hinblick auf ein In-Bezug-Setzen des Herero-Genozids zum späteren Holocaust – widerzuspiegeln bzw. zu beeinflussen, werden hier die affektiven Dimensionen des schriftstellerischen Unternehmens, den Deutsch-Namibischen Krieg und den Völkermord an den Herero bzw. Nama mit literarischen Mitteln darzustellen, analysiert. Da Seyfrieds Roman Herero beide Aspekte der historischen Belletristik aufweist und versucht, wenn auch nur bedingt erfolgreich, sowohl historischer Treue wie auch nacherzählter Subjektivitätserfahrung gerecht zu werden, bietet der Text, wie bereits angeführt, einen passenden Einstieg in die Skizzierung des methodologischen und theoretischen Rahmens der Studie.
2.2 Kontext der Studie
Seyfrieds Herero erscheint kurz nach dem Ende eines Jahrzehnts des (vermeintlichen) Friedens in der westlichen Welt, das sich an das Ende des Kalten Kriegs nach dem Mauerfall 1989 und die Wiedervereinigung 1990 anschloss. Der Fall der Berliner Mauer bedeutete zugleich, aus der Sicht des amerikanischen Historikers Fukuyama (1989), „das Ende der Geschichte“ und die nachfolgenden zehn Jahre schienen, zumindest aus euro-amerikanischer Perspektive, diese Sichtweise zu bestätigen: Das Ende des Apartheidregimes in Südafrika 1994, das Oslo-Abkommen zwischen