Diese kulturpolitischen Rahmenbedingungen liefern die konzeptuelle Umrahmung der vorliegenden Studie: Sie bietet in erster Linie eine Interpretation der deutschsprachigen Belletristik der Gegenwart zum kolonialen Deutsch-Südwestafrika und vor allem zum Deutsch-Namibischen Krieg und anschließenden Genozid an den Herero- bzw. Nama-Völkern 1904 bis 1908. Letzteres bedarf zunächst eines kurzen zusammenfassenden Überblicks.
Am 11. Januar 1904 begannen die in der jüngsten geschichtswissenschaftlichen Literatur als Deutsch-Namibischer Krieg bezeichneten Kampfhandlungen mit der Auflehnung der Herero im zentralen Deutsch-Südwestafrika. Im Zuge des rapide zunehmenden Landerwerbs seitens deutscher Siedler bei Verlust der traditionellen auf Rinderbesitz basierenden Wirtschaftsgrundlage der Herero, des rabiaten Eintreibens von Schulden von deutschen Händlern und der weitverbreiteten und ungestraften sexuellen Übergriffe seitens der Weißen entschlossen sich die Herero zum bewaffneten Kampf. Eine erhebliche Zahl deutscher Farmer wurde ermordet, deren Frauen und Kinder blieben jedoch verschont. Die deutschen Schutztruppen waren im Süden durch einen Aufstand der Bondelwarts gebunden und konnten nur langsam reagieren. Bald wurde Gouverneur Leutwein durch General Lothar von Trotha abgelöst, der eine Vernichtungsstrategie verfolgte: „Ich vernichte die aufständischen Stämme mit Strömen von Blut und Strömen von Geld“ (zitiert nach Drechsler 1984 [1966]: 156). Nach erheblichen deutschen Truppenverstärkungen wurden die Hereroverbände am 11. August 1904 beim Waterberg geschlagen und in die Omaheke-Wüste getrieben. Die Abriegelung möglicher Fluchtwege durch Postenketten und die Vergiftung der Wasserquellen wurden als absichtlich geplante Vernichtungsmaßnahme durchgeführt:
Keine Mühen, keine Entbehrungen wurden gescheut, um dem Feinde den letzten Rest seiner Widerstandskraft zu rauben; wie ein halb zu Tode gehetztes Wild war er von Wasserquelle zu Wasserquelle gescheucht, bis er schließlich willenlos ein Opfer der Natur des eigenen Landes wurde. Die wasserlose Omaheke sollte vollenden, was die deutschen Waffen begonnen hatten: Die Vernichtung des Hererovolkes. (Bericht der Kriegsgeschichtlichen Abteilung 1906, zitiert nach Kößler / Melber 2017: 23–4)
Am 2. Oktober 1904 erließ von Trotha den bekannten Schießbefehl:
Die Hereros sind nicht mehr deutschen [sic] Untertanen. […] Das Volk der Herero muß […] das Land verlassen. […] Innerhalb der deutschen Grenze wird jeder Herero mit oder ohne Gewehr, mit oder ohne Vieh erschossen, ich nehme keine Weiber und Kinder mehr auf, treibe sie zu ihrem Volke zurück oder lasse auf sie schießen. (Zitiert nach Zimmerer 2003: 51)
Der Schießbefehl setzte die „Ausbürgerung“ der Herero und somit deren Vertreibung in die totale Rechtlosigkeit innerhalb der Kolonialgrenzen fort, d.h. sie konnten sowohl einzeln als auch als Gruppe straffrei getötet bzw. vernichtet werden. Schätzungsweise kamen insgesamt 80 bis 90 Prozent der Herero ums Leben (vgl. Bridgman 1981: 164–5).
Provoziert durch die Niederlage und Unterdrückung der Herero entschieden sich viele Nama im Süden des Landen zum bewaffneten Widerstand, vermieden jedoch herkömmliche Kriegsmethoden und verfolgten einen Guerillakrieg, der 14.000 deutsche Soldaten auf sehr effektive Weise band – bis zum Tod Hendrik Witboois am 29. Oktober 1905. Danach kapitulierten viele der Nama-Kämpfer und erlitten ein ähnliches Schicksal wie die Herero. Schätzungsweise kamen 50 Prozent der Nama ums Leben (Speitkamp 2005: 133). Die Kampfhandlungen dauerten noch bis 1907 an. Einer der erfolgreichsten Nama-Kämpfer war Jakob Morenga, bis er 1906 in britische Gefangenschaft geriet und 1907 nach der Flucht ins benachbarte Bechuanaland starb (Bürger 2017: 127–32). Der Krieg wurde am 31. März 1907 für beendet erklärt.
Bald nach der Schlacht am Waterberg wurden Gefangenenlager, ausdrücklich als „Konzentrationslager“ bezeichnet, errichtet. In den berüchtigten Lagern in Swakopmund sowie der Lüderitzbucht mit der Haifischinsel kamen zwischen 50 und 90 Prozent der Insassen um. Die Kriegsgefangenschaft für die Herero wurde am 28. Mai 1908 aufgehoben (Zimmer 2003: 58), da die Sterberaten für die Siedler einen ernstzunehmenden Engpass in der Versorgung mit afrikanischen Arbeitskräften bedeuteten. Nama-Gefangene wurden jedoch erst 1914 offiziell aus der Kriegsgefangenschaft entlassen. Die absolute Enteignung der Viehbestände bzw. des Landes der Kolonisierten wurde 1905 vom Reichstag beschlossen und vom kolonialen Gouvernement 1907 bekräftigt. Dadurch wurden riesige Gebiete im Zentrum und im Süden des Landes für weiße Siedler freigegeben, die über ein Reservoir völlig entrechteter und wirtschaftlich abhängiger Arbeitskräfte verfügten (Werner 2004). 1908 wurden der Arbeitszwang und die Passpflicht eingeführt. Zwangsumsiedlungen wurden durchgeführt und die Rassentrennung, auch einschließlich eines Verbots von Mischehen, wurde ab 1908 beschlossen (Hartmann 2004), so dass die Lineamente eines Vorläufers des Apartheidsystems entstanden, die unverändert von der Südafrikanischen Union während der Besatzung ab 1915, im Übergang zum Mandatsstatus 1919 und schließlich bei der Etablierung der Apartheid 1948 übernommen wurden.
Erst 1990 nach der Unabhängigkeit Namibias, der ein Vierteljahrhundert Befreiungskämpfe vorangegangen waren, wurde eine Auseinandersetzung mit der Kolonialzeit möglich, die bald in die umstrittene Frage der Reparationen mündete.
Die vorliegende Studie untersucht acht zwischen 1978 und 2015 veröffentlichte deutschsprachige Romane zum Deutsch-Namibischen Krieg und zum Genozid an den Herero- und Nama-Völkern. Die Romane setzen an verschiedenen geschichtlichen Zeitpunkten an bzw. behandeln die Ereignisse aus sehr weit auseinandergehenden geschichtlichen Perspektiven. Der zentrale Ansatz hier ist jedoch weder die Bewertung der Aufarbeitung historischen Geschehens noch die diskursanalytische Kritik der jeweiligen Ideologien des Kolonialismus bzw. der Aufarbeitung des Kolonialismus, sondern die in den Romanen exponierte Gestaltung der affektiven Verbindungsmodi zwischen Vergangenheit und Gegenwart sowie zwischen Deutschen und den ehemaligen Kolonisierten bzw. den heutigen Namibiern.
Stellvertretend für diese literarische Strömung bzw. Untergattung (gegenwärtige literarische Darstellungen des Deutsch-Namibischen Kriegs) wird der bahnbrechende Montage-Roman von Uwe Timm, Morenga (2000 [1978] / 2020 [1978]) als paradigmatisches Beispiel für die Untersuchungsmethodik behandelt.1 Im Gegensatz zu vielen literaturgeschichtlichen Studien auf diesem Gebiet wird der Roman im Rahmen des allgemein noch relativ kontroversen und umstrittenen – im deutschen Kontext noch wenig bekannten – Ansatzes der Affekttheorie interpretiert. Es wird gezeigt, dass die Montage-Technik Timms nicht nur die kritische „Brechung“ der vermeintlich kohärenten Realität und deren ideologische Konstruktion unterstützt, sondern dass das Nebeneinanderfügen von Fragmenten genauso gut die gegenseitige Interaktion und sogar Anziehungskraft von verschiedenen aneinander geratenen Kulturen suggerieren kann. Genau wie im Falle der Restitution von geraubten Kulturgütern geht es darum, nicht nur einen unabdingbaren