Sprache als psychotherapeutische Intervention. Steven C. Hayes. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Steven C. Hayes
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Медицина
Год издания: 0
isbn: 9783170330160
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Beispielsweise wurden Probanden gebeten, nicht an einen weißen Bären zu denken (Wegner, 1989). Die Probanden testeten eine Reihe von vernünftigen Strategien, wie z. B.: an etwas anderes zu denken oder leise vor sich hin zu singen. Fast alle Teilnehmer berichteten von einem starken Anstieg der Häufigkeit, mit der sie an weiße Bären dachten. Diejenigen, die kurzfristig erfolgreich waren, entdeckten ein absurdes Phänomen: Sobald sie überprüften, ob ihre Strategie erfolgreich war (»Denke ich an einen weißen Bären?«), war der weiße Bär wieder in ihren Köpfen. Bewältigungsstrategien, die anfangs erfolgreich sind (z. B. »ich werde mich ablenken oder meditieren, bis ich ruhig werde«), werden in das Programm symbolischer Vermeidung eingebunden und führen dazu, dass Menschen mit den Dingen, denen sie sich zu entziehen versuchen, häufiger konfrontiert werden.

      Forscher im Bereich der Relational Frame Theory haben in mehreren Studien Sprachprozesse untersucht, die dazu führen, dass sich Auslöser von Vermeidungsverhalten ausdehnen und verselbständigen. In einem Experiment (Hooper, Saunders & McHugh, 2010) hatten Probanden zunächst eine typische relationale Lernaufgabe mit der Gleichung A = B = C. In diesem Fall waren die Stimuli zwei bedeutungslose Wörter und ein richtiges Wort: »Boceem = Gedeer = Bear«. Anschließend wurden die Probanden darum gebeten, nicht an einen Bären (Bear) zu denken, während sie sich eine Serie von Stimuli ansahen, die einer nach dem anderen auf einem Bildschirm erschienen. Unter diesen Stimuli befanden sich die Wörter »Gedeer« und »Boceem«, weitere bedeutungslose Wörter und das Wort »Bear«. Wie Sie sich vorstellen können, ist es schwierig, nicht an einen Bären zu denken, wenn man das Wort »Bär« direkt vor Augen hat. Um es leichter zu machen, durften die Teilnehmer die Leertaste drücken, wenn sie einen Stimulus vom Bildschirm entfernen wollten. Folgerichtig drückten die Probanden die Leertaste jedes Mal, wenn das Wort »Bear« auf dem Bildschirm erschien. Sie entfernten aber ebenfalls das Wort »Gedeer«, das mit »Bear« in der Studie einer wechselseitigen Verbindung stand (Mutual Entailment). Außerdem entfernten sie das Wort »Boceem«, das durch eine implizite Bedingung (Combinatorial Entailment) einen Bezug zu »Bear« hatte. Sie entfernten kein anderes der bedeutungslosen Wörter, die alle nicht mit »Bear« in Verbindung standen. Stimuli, die ausschließlich durch Sprache mit dem Objekt in Verbindung stehen, das in Gedanken vermieden werden soll, werden ebenfalls zu Objekten der Vermeidung. Die Probanden vermieden nicht nur das Wort »Gedeer«, das direkt mit »Bear« in Beziehung stand (»Gedeer« ist wie »Bear«), sie vermieden ebenfalls »Boceem«, das nur durch eine abgeleitete Beziehung mit »Bear« verknüpft war (»Boceem« ist wie »Gedeer«). Auch wenn ein Stimulus in einer gegensätzlichen Beziehung zu »Bear« steht, neigen Probanden dazu, ihn zu vermeiden (Stewart et al., 2015). Wenn Menschen an etwas Schönes denken, um einen schmerzhaften Gedanken zu vermeiden, holt der Schmerz sie schnell ein. Sobald Sprache im Spiel ist, kann sich der Schmerz unbegrenzt ausbreiten. Es ist nicht möglich, Quellen von Leid in einem eingeschränkten Gebiet zu halten.

      Sprache kann die Funktion jedes Ereignisses verändern. Jedes Ereignis kann aversiv werden, da jedes Ereignis symbolisch mit anderen Ereignissen verknüpft werden kann, die aversiv sind. Es ist unwahrscheinlich, dass neprijatelji ukrasti für Sie eine Bedeutung hat. Nehmen Sie aber an, dass eine Leserin dieses Buches sehr bemüht ist, eine bestimmte Erinnerung zu vermeiden: Sie hat in der Vergangenheit einen Freund bestohlen. Schon der geringste Hinweis darauf lässt unsere arme Leserin vor Scham fast im Boden versinken. Lassen Sie uns annehmen, die Leserin hat Spaß am Gitarre Spielen und Fahrradfahren, und sie liest den nächsten Absatz.

      Liebe Leserin, bitte stellen Sie sich vor, Sie spielen auf ihrer Gitarre, während Sie Rad fahren. Dabei spielt eine Person namens Neprijatelji die Gitarre. Ach, übrigens bedeutet neprijatelji auf Kroatisch »Feinde«. Was ist das Gegenteil von »Feind«? Und übrigens lautet das kroatische Wort für »stehlen« ukrasti. Neprijatelji ukrasti.

      Wir konstruieren hier ein Netzwerk mit der unmoralischen Absicht, dass es für unsere Leserin unmöglich wird, Rad zu fahren, ohne aus dem Nichts heraus ein unangenehmes Schamgefühl zu erleben. Der vorherige Absatz löst möglicherweise genau dies bei unserer armen Leserin aus. Sprache kann die Funktion eines jeden Ereignisses verändern. Durch Ableitung vermag Sprache veränderte Funktionen nahezu endlos und grenzenlos durch ein symbolisches Netzwerk zu verbreiten. Deshalb ist gezielte Erlebnisvermeidung so schwierig.

      Wenn wir unsere Patientinnen fragen, ob ihre Versuche, unangenehme Erinnerungen zu vergessen oder keinen Schmerz zu empfinden, erfolgreich sind, antworten sie meistens mit Nein. Warum halten wir trotzdem alle so bereitwillig an dieser Strategie fest? Einmal mehr spielen Sprachprozesse bei diesem Paradox eine wichtige Rolle.

      2.3 Regelgeleitetes Verhalten und Inflexibilität

      2.3.1 Regelgeleitetes Verhalten kann zu mangelnder Kontextsensitivität führen

      Bemerkenswert ist die folgende Kehrseite des symbolischen Lernens: wenn Menschen auf der Grundlage von Regeln lernen, untergräbt dies die lenkende Funktion der unmittelbaren Erfahrung (d. h. Lernen von Kontingenzen). Die Paradoxie liegt darin, dass die mangelnde Sensitivität gegenüber direkter Erfahrung nicht auf ungünstigen Eigenschaften des symbolischen Denkens beruht. Im Gegenteil, gerade weil die symbolischen Fertigkeiten einen so großen und raschen Nutzen haben, drängen sie andere Quellen des Lernens und menschlichen Verhaltens an den Rand.

      Stellen Sie sich folgendes vor: Sie besuchen zum ersten Mal eine Stadt und möchten wissen, wo sich die besten Restaurants befinden. Sie schlagen in einem Reiseführer nach und essen in einigen der dort empfohlenen Restaurants. Jedes Mal verlassen Sie das Lokal sehr zufrieden. Das Essen ist hervorragend, der Service schnell und freundlich, und die Preise entsprechen genau Ihrem Budget. Wenn Sie das nächste Mal in der Stadt sind, freuen Sie sich schon darauf, Ihre Lieblingsrestaurants zu besuchen, wo Sie guten Service und hervorragendes Essen zu einem guten Preis-Leistungs-Verhältnis bekommen. Jahr für Jahr besuchen Sie die gleichen Orte und sind stolz darauf, dass Sie die besten Lokale kennen.

      Eines Tages erzählt Ihnen ein Freund, dass er vor kurzem in derselben Stadt war und dort in einigen großartigen Restaurants gegessen hat. Keines davon steht auf Ihrer Liste. Einige liegen in einem Teil der Stadt, den Sie nie besucht haben, weil Ihnen von einem Besuch abgeraten wurde. Ihr Freund dagegen hatte sich die Zeit genommen, unterschiedliche Stadtteile zu erkunden, verschiedene Gerichte auszuprobieren und einige Restaurants zu testen. Er wollte herausfinden, ob Essen, Service und Preis in einem guten Verhältnis stehen. Im Laufe der Zeit hatten sich einige Teile der Stadt entwickelt und auch die Restaurants dort wurden besser. Obwohl Sie selbst schnell und zweckmäßig herausgefunden hatten, wo die besten Restaurants waren, wurden Sie dadurch unempfindlich für die Veränderung der Stadt. Ihr Freund, der die Stadt selbst erkundete, fand Restaurants mit interessantem Essen und günstigeren Preisen an unerwarteten Stellen.

      Menschen lernen einen großen Anteil an dem, was sie später umsetzen, durch Regeln. Regeln sind eine Erweiterung des grundlegenden relationalen Lernens. Zwei Ereignisse können unabhängig von ihren intrinsischen Merkmalen beliebig in Beziehung miteinander gesetzt werden. Dasselbe Prinzip macht es möglich, Regeln aufzustellen, die von den Konsequenzen, die sie beschreiben, unabhängig sind. Der Grund ist relativ einfach: Regeln entstehen durch eine Kombination symbolischer Beziehungen. Diese Kombinationen können arbiträr sein. Wir könnten beispielsweise behaupten, dass das Lesen dieses Buches Sie zu einem guten Therapeuten oder aber auch zu einem guten Koch machen wird, indem wir die Aussage »Lesen dieses Buches« in eine konditionale Beziehung (wenn… dann) setzen. Damit haben wir eine Regel aufgestellt, die die Konsequenz der Handlung genau beschreibt. Diese Konsequenz kann eine Auswirkung auf Ihre Entscheidung haben, das Buch weiterzulesen. Dabei kann es ausschlaggebend sein, ob die vorausgesagten Konsequenzen unplausibel, unerwünscht oder angsteinflößend sind. In jedem Fall ist die Regel verständlich und wird Ihr Verhalten beeinflussen.

      Forscher im Bereich der Relational Frame Theory konnten experimentell zeigen, wie eine Kombination abgeleiteter Beziehungen zur Entwicklung von Regeln führt (O’Hora, Barnes-Holmes, Roche & Smeets, 2004). Wie in vielen Experimenten der RFT Forschung bestand der erste Schritt darin, ein völlig neues relationales Netzwerk herzustellen. So wird sichergestellt, dass die Probanden keinen vorherigen Kontakt mit den verwendeten Stimuli hatten. Die Probanden in diesem Experiment mussten lernen, was »vorher« und »nachher« bedeutet, als lernten