Von Zeitlupensymphonien und Marzipantragödien. Radek Knapp. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Radek Knapp
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Языкознание
Год издания: 0
isbn: 9783903217591
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den reinsten Wahnsinn in der Leitung«, las Marek meine Gedanken. »Ich überlege schon seit einer Weile, ob ich es in Polen nicht als stilles Mineralwasser verkaufen soll.«

      Außerdem wollte ich zwei Fliegen mit einer Klappe schlagen. Ich litt noch an der romantischen Vorstellung, dass irgendwo in der großen Welt auf jeden Menschen ein Gericht wartete, das nur für ihn erschaffen wurde. Wenn es in einer Straßenkneipe in Saigon beziehungsweise in einem Luxushotel in Los Angeles auf einen warten konnte, warum nicht auch gleich um die Ecke? Ich wusste sogar genau, dass es aus zwei Teilen bestehen würde. Einer Hauptspeise und einem Dessert in Begleitung eines speziellen Gebäcks. Beim Gebäck hatte ich sogar schon einen Favoriten. Es war die Salzstange, deren Genialität ich bereits beim Heurigen erkannt hatte. Sie war auf den ersten Blick nichts anderes als eine Semmel, die man in die Länge gezogen hatte, bis sie die Form eines 30 Zentimeter langen Dolches bekam. Aber dadurch, dass dieser »Dolch« mit Salz berieselt wurde, änderte sich vieles, um nicht zu sagen alles.

      Ermuntert durch diesen ersten Erfolg machte ich weiter und knöpfte mir die Hauptspeisen vor. Zuerst fürchtete ich, dass sie den polnischen zu ähnlich sein würden. Nichts gegen die polnische Küche, schließlich hatte sie mich zu jenem reiselustigen und gut gelaunten Forscher heranwachsen lassen, dem ich täglich im Spiegel die Zähne putzte. Aber niemand konnte leugnen, dass sie unter einer majestätischen Schwere der Fleischgerichte litt, die jährlich Tausende Eigentümer von Magengeschwüren produzierte.

      Unter größter Vorsicht kostete ich mich als Erstes durch die österreichischen Klassiker, die solche martialischen Namen trugen wie »Gulasch vom Superrind« oder »Ochsenschlepp in Petersiliensauce«. Auch das berüchtigte »Wiener Schnitzel« kam dran. Und siehe da. Ein Wunder passierte. Es waren das gleiche Fleisch, die gleichen Kartoffeln, ja sogar die gleiche Sauce wie in der Heimat. Aber etwas war anders. Die slawische Gravitation löste sich in Luft auf. Was immer ich auch schluckte, es lag so gut in meinem Magen, als hätte es schon immer dort hingehört. Sogar das Wiener Schnitzel, wobei man fairerweise anmerken muss, dass man es vorher so fest geklopft hatte, dass es dünn wie eine Hostie war.

      Erfreut über diese unerwartete Leichtigkeit erweiterte ich meine Suche auf den Fischbereich, was ein riskantes Unterfangen war. Ich war bereits seit meiner polnischen Kindheit nicht gut auf Fische zu sprechen. Bis zu meinem zwölften Lebensjahr war ich sogar überzeugt, dass auf der Welt nur zwei Fischarten existierten: der polnische Weihnachtskarpfen und Moby Dick. Vom ersten konnte ich keinen Bissen mehr herunterkriegen, weil man ihn rund um die Uhr essen musste. Vom zweiten hätte ich zwar gerne etwas probiert, erfuhr jedoch stattdessen, dass auf seiner Speisekarte Menschen in Form von rachsüchtigen Walfängern standen. Außerdem – was konnte man sich schon in Sachen Fisch von einem Land erwarten, das nicht einmal ein Meer hatte? Überrascht stellte ich aber fest, dass man an der blauen Donau längst über den Weihnachtskarpfen und Moby Dick hinaus war. Ich probierte zuerst einen Lachs in Dille, einen Kabeljau mit siamesischem Reis und ging dann zu anderen Fischen über, deren Namen ich bis dahin nur aus der Natursendung Universum kannte. Das Resultat warf mich um.

      Ich war schon fast so weit, den ersten Platz einer Dorade zu geben, als das Schicksal seinen Lauf nahm. Eines Tages war ich mit dem Rad unterwegs und landete in Floridsdorf, das bekanntlich für zwei Dinge berühmt ist: riesige Gemeindebauten und Schnellbahnen, die an diesen Gemeindebauten so geräuschvoll vorbeidonnern, dass die Teller auf dem Tisch von selbst die Plätze tauschen. Irgendwann kehrte ich in ein kleines Wirtshaus am Straßenrand ein, um auf die Toilette zu gehen. Sobald ich meine Notdurft erledigt hatte, beschloss ich, ein Bier zu trinken. Kaum hatte ich das Bier bestellt, dachte ich mir, wenn ich schon meine Notdurft verrichtet habe und ein Bier trinke, kann ich auch genauso gut etwas essen. Das Tagesmenü war überschaubar, Frittatensuppe und dazu ein ominöses Gericht namens »Blunzengröstl«. Der Wirt, ein schweigsamer Mann mit einer Tätowierung auf dem Arm, die man bestimmt nicht in Tattoosalons bekommt, brachte das Essen.

      Die Suppe war in Ordnung, aber beim »Blunzengröstl« passierte Folgendes: Nach dem ersten Bissen wurde ich hellhörig, nach dem zweiten bekam ich Schnappatmung und nach dem dritten begriff ich, dass ich in diesem gottverlassenen Wirtshaus mein perfektes Märchenmahl gefunden hatte. Es lag an der Kombination aus den geschmorten Zwiebeln, der rätselhaften Blunze und noch etwas, was nicht einmal Einstein und Goethe zusammen herausfinden würden.

      Optimistisch stürzte ich mich auf die letzte Aufgabe: die Suche nach der perfekten Nachspeise oder, wie die Scherzbolde in österreichischen Kochsendungen sagten, der angenehmsten Art, sich Diabetes zu holen. Alles deutete darauf hin, dass das in einer Stadt, die praktisch selber ein riesiger Apfelstrudel war, ein Kinderspiel wäre. Aber ich irrte. Ich kostete mich vergeblich durch mehrere Mehlspeisenvitrinen in der Stadt, bis am Ende doch noch ein Wunder passierte. Und zwar in einer kleinen Konditorei im siebten Bezirk. Mein Märchendessert war eine Mehlspeise mit dem ulkigen Namen »Mohr im Hemd«. Man konnte ihn so essen, wie Gott ihn schuf, oder gleich zu Diabetes 2 übergehen und Schlagobers dazunehmen. Das Resultat war immer gleich. Für einen Moment blieben alle Uhren stehen, sogar die biologische, und der Mensch begriff in diesem Augenblick, wie sein Leben hätte werden können, wenn er genug Geld hätte, sich täglich einen »Mohr im Hemd« zu leisten.

      Um zu beweisen, dass ich bei meiner Entdeckung nicht unter dem Einfluss einer fremden Macht oder Zuckerschock stand, möchte ich mich auf zwei glaubwürdige Zeugen berufen, die genauso wie ich ihr perfektes Mahl in der österreichischen Küche gefunden haben. Sie sind nicht nur glaubwürdig, sie kommen noch dazu aus absolut unterschiedlichen Kulturkreisen, was absolute Objektivität garantiert.

      Den ersten Glückspilz traf ich in einem Speisewagen der ÖBB. Es war ein deutscher Ingenieur, der geschäftlich von München nach Wien unterwegs war. Er schaufelte gerade eine nicht sonderlich appetitlich aussehende ÖBB-Gulaschsuppe in sich hinein und sah aus, als hätte er die letzten zehn Tage nichts gegessen. Als er meinen neugierigen Blick bemerkte, sagte er mit vollem Mund: »Wir Deutsche haben vielleicht die bessere Fußballnationalmannschaft, aber die Alpenrepublik schlägt uns in der Küche 10 zu 0. Deswegen buche ich meine Dienstreisen immer so, dass ich im österreichischen Speisewagen lande. Und zwar Monate im Voraus, damit mir die Kollegen vom Büro den Platz nicht wegschnappen.«

      Dann vertiefte er sich wieder in das ÖBB-Gulasch, und es war nichts mehr aus ihm herauszubekommen. Erst beim Dessert, einem vertrockneten Marillenkuchen, gab er einen kurzen, tiefen Seufzer von sich, bevor er von Neuem mit seinem Teller verschmolz.

      Die anderen Glückspilze, es waren nämlich gleich mehrere, kamen aus dem asiatischen Raum. Das bedeutete erstens, dass ihre Geschmackslatte von Haus aus um einiges höher als beim deutschen Ingenieur lag, und zweitens sind Asiaten, sobald sie ihren natürlichen Nahrungskreis verlassen, sehr pingelig, was die fremde Küche angeht. Ich beobachtete sie eines Tages dabei, wie sie in der Aida am Stephansplatz drei Kardinalschnitten bestellten. Die Kardinalschnitten hatten ihre beste Zeit eindeutig schon hinter sich, was man sogar am Gesicht der Kellnerin ablesen konnte. Trotzdem stürzten sich alle drei auf die »exquisite wienerische Köstlichkeit«, wie man in ihren Reiseführern alle Aida-Produkte bezeichnete. Sie verschlangen ihr Dessert mit so viel Selbstvergessenheit, dass man in diesem Moment gerne das Gesicht von Professor Freud gesehen hätte. Die drei widerlegten gerade in aller Öffentlichkeit die letzte noch gültige These dieses großen Gelehrten, wonach das Essen der Sex des Alters wäre. Keiner von ihnen war nämlich älter als zwanzig. Und als wäre es nicht genug, leuchteten ihre Handys die ganze Zeit wie Weihnachtsbäume, ohne dass auch nur einer daran dachte, sie abzuheben.

       Zunge vom sprechenden Ochsen

      Wie jede romantische Beziehung hatte auch meine Liebe zur österreichischen Küche eine Schattenseite. Man nannte sie die Gourmetküche. Ich entdeckte dieses Phänomen zum Glück längst, nachdem ich meine perfekte Mahlzeit gefunden hatte und meine Gefühle gefestigt waren. Trotzdem fragte ich mich immer, wenn ich einen Gourmettempel, wie man spezielle Restaurants nannte, sah: Wozu neben einem echten Diamanten noch einen künstlichen hinstellen? Oder neben einer echten Rose eine aus Plastik?

      Es tat mir im Magen weh, wenn ich sah, was ein Gourmetkoch mit einem Schnitzel oder einer Ochsenzunge anrichtete. Er panierte und pürierte das arme Ding