Kieler Bagaluten. Henning Schöttke. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Henning Schöttke
Издательство: Bookwire
Серия: K üsten Krimi
Жанр произведения: Языкознание
Год издания: 0
isbn: 9783960416883
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Leute behaupten, Menschen würden im Alter oft wieder kindisch. So alt scheint Frau Heerten allerdings noch nicht zu sein, sie erinnert sich jedenfalls gerade noch rechtzeitig daran, dass das mit den Händen vorm Gesicht schon als Kind nicht geklappt hat.

      Als es zu dämmern beginnt, hält Frau Heerten am Parkplatz auf dem nördlichen Kanalufer schräg gegenüber der Kanalwache und steigt mit Spaten und Pappkarton samt inwendiger Katze aus dem Auto. Die Stelle, an der sie Maunzi begraben will, kennt sie von ihren vielen Spaziergängen mit Armin – damals, als das Leben noch schön war.

      Im Augenblick ist das Leben allerdings gar nicht schön. Es ist inzwischen ziemlich dunkel geworden, sie sieht kaum was, als sie sich vorsichtig die Böschung hochtastet. Natürlich hat sie eine Taschenlampe. Sie hat sogar drei – alle zu Hause. Von der Brücke, die von hier unten übermächtig, ja geradezu bedrohlich wirkt, fällt kaum ein Lichtstrahl herab. Um diese Zeit fahren hier nur wenige Autos. Und deren Scheinwerferlicht wird von dem schweren Gerät, das für die anstehenden Umbaumaßnahmen herbeigeschafft wurde, größtenteils verdeckt.

      Sie bleibt kurz stehen und sieht zu den dunklen Silhouetten der Baumaschinen hoch. Das hätte ihrem Thomas sicher gefallen – oder noch besser Karin. So viele Puppen hat sie ihr geschenkt, doch das undankbare Kind hat immer nur mit Thomas’ Autos gespielt.

      Die Zweige, an denen sie sich nach oben zieht, piksen sie in die Hand und krallen sich in ihrem Mantel fest. Sie hat nur den rechten Arm frei, um sich festzuhalten. Unter dem linken klemmen der Spaten und der Karton mit Maunzi. Zweimal schon wäre sie ihr beinah rausgefallen und die Böschung hinuntergekullert. Frau Heerten ist fix und fertig, als sie endlich an ihrem Ziel angekommen ist und für Maunzi ein geeignetes Plätzchen findet. Hier ist die Erde locker und weich, ideal, um die Katze zu ihrer letzten Ruhe zu betten.

      Und schon wieder ahnt sie nichts. Wobei ich wirklich sagen muss: Diesmal ist das total erstaunlich. Wenn man heimlich und verstohlen so dicht an einem Geheimnis ist, dann sind doch alle inneren Antennen auf Empfang und sirren sich die Seele aus dem Leib. Aber Frau Heerten hat nur Augen für diese geeignete Stelle. Sie wird erst stutzig, als ihr Spaten mit einem metallischen Klang auf etwas Hartes trifft.

      4

      So ist das ja öfter im Leben: Kaum ist man ein Problem los, hat man ein anderes an den Hacken. Sie ist aber auch wirklich zu blöd. Statt die Katze neben dem kleinen Metallkästchen zu beerdigen, das Erdreich wieder sauber über beidem zu verteilen und die Stelle mit einem schlichten Kreuz aus zwei übereinandergelegten Zweigen der Vergessenheit anheimzugeben, hat sie ein Ärgernis gegen das andere getauscht: die Katze begraben und das Kästchen mit ins Auto genommen. Hat sogar noch – ganz Hausfrau – die Erde abgewischt, bevor sie es im Kofferraum versenkte.

      Das kommt daher, dass der Mensch als solcher neugierig ist. Du natürlich nicht, du hättest dir gesagt, was geht mich der vergammelte Kasten an, den irgendwer im weichen Erdreich neben dem Kanal verbuddelt hat. Da ist sicher was total Ekliges drin. Was, will ich gar nicht wissen. Aber unsere Frau Heerten wird in ihrer Jugend wohl zu viele Märchen und Sagen gelesen haben. In denen wimmelt es ja bekanntlich nur so von vergrabenen Schätzen. Anders kann ich mir wirklich nicht erklären, warum sie das rotte Teil mitgenommen hat.

      Jetzt sitzt sie in der Küche, starrt den kleinen Kasten an und kaut auf der Unterlippe. Das kann daran liegen, dass sie dieses leichte Kribbeln verspürt, das man immer bekommt, wenn die Vorahnung am Werk ist. Wurde ja auch langsam Zeit: Nix gespürt, als der Tag so grauenvoll begann, da kann das Kribbeln jetzt eigentlich nur was Gutes bedeuten.

      Sie überlegt, was ist, wenn sie die Kiste öffnet und ihr die erwarteten Silbermünzen, Goldketten und Brillantringe entgegenpurzeln. Darf man so was eigentlich behalten? Paragraf 984 BGB könnte ihr weiterhelfen. Der besagt, dass sie mit dem Eigentümer des Uferstreifens, also dem Land Schleswig-Holstein, halbe-halbe machen muss. Es sei denn, es ist zum Beispiel ein Zettel dabei: »Gehört alles mir. Gezeichnet Ritter Hadubrand«. Dann muss sie sich auf die Suche nach dessen Nachfahren machen und kann nur auf Finderlohn hoffen.

      »Lass gut sein«, möchte man Frau Heerten zurufen. Aber da kann man rufen und rufen. Sie nimmt ein Küchenmesser und prokelt am Schloss rum, nimmt zur Stärkung noch ein Schlückchen Eierlikör, und endlich geht das Kästchen auf.

      Was hab ich dir gesagt: eine einzige Enttäuschung! Nicht der kleinste Brillantring, nur ein paar Silbermünzen. Und genau genommen nicht mal das. Selbst bei der guten alten Deutschen Mark bestand nur das Fünf-Mark-Stück aus einer Silberlegierung. Immerhin bis 1974, dann drohte der Materialpreis den Wert der Münze zu übersteigen. Die paar Euromünzen, die sie jetzt in dem alten, speckigen Portemonnaie findet, sind nicht mal mehr an einem Stück Silber vorbeigetragen worden. Da sind nur noch Nickel und Messing verbaut worden.

      Einerseits natürlich schön, dass sie den Haufen Geschmeide nun nicht mit dem Land Schleswig-Holstein teilen muss. Auf der anderen Seite: Für das bisschen Geld kann sich Frau Heerten allenfalls drei, vier Plastikringe aus einem Kaugummiautomaten ziehen. Wenn es die Dinger überhaupt noch gibt. Sie hat schon lange keinen mehr gesehen. Schade, es war immer so spannend, ob nur zwei große bunte, eklig schmeckende Kaugummikugeln kamen oder ob der Automat einen wunderschön glitzernden Ring ausspuckte.

      Mit spitzen Fingern dreht sie die stinkige Geldbörse auf links und findet einen Personalausweis, einen Pass, Führerschein, Einkaufsquittungen und eine Kinokarte fürs Metro.

      Ja, ich weiß, du würdest jetzt natürlich als Erstes die amtlichen Dokumente einer näheren Prüfung unterziehen, aber Frau Heerten dreht die Kinokarte in den Fingern. Was für ein langweiliger einfarbiger Zettel. Wenn sie da noch an früher denkt, dieses dunkle Weinrot und die Mausezähnchen am Rand. Wunderbar. Es gab Parkett und Sperrsitz. Sperrsitz, was war das noch? Absperrbare Sitze sagten früher: »Ich gehöre dir, dafür hast du bezahlt, hier setzt sich kein anderer hin.« So was gibt’s heute gar nicht mehr. Zumindest nicht im Kino. Nur noch am Strand. Wir Ostseeanrainer schützen so unsere Strandkörbe vor unbefugtem beziehungsweise unbezahltem Drinsitzen.

      Jetzt greift Frau Heerten nach dem Ausweis. Wie heißt der junge Mann, dessen Passbild sie anstarrt? Martin Szupri cy ki … Sie steht auf und sucht im Sekretär nach ihrer Lupe. Martin Szupryczynski, geboren am 17. Februar 1981. Und auf der Rückseite des Personalausweises ist ein Adressaufkleber: Kiel, Amrumring ui. Ui? Ausgerechnet da ist ein Teil des Aufklebers abgekratzt. Die Hausnummer lässt sich nicht entziffern.

      Siehst du, da hat sie den Salat. Jetzt kann sie den ganzen Amrumring ablaufen, auf den Klingelschildern nach einem Martin Szupridingsda suchen und ihm das dreckige Portemonnaie in den Briefkasten werfen. Und der muss losziehen und es woanders wieder einbuddeln.

      Warum hat er das Zeug überhaupt vergraben? Tut man doch nicht. So was braucht man doch. Oder nicht? Sie überlegt, wann sie zum letzten Mal ihren Pass, Personalausweis oder Führerschein gebraucht hat. Den Führerschein braucht man eigentlich nie, außer, wenn er einem abgenommen werden soll.

      Den Pass brauchte sie für ihre Kreuzfahrt vorletzten Herbst. Aber vielleicht macht Martin Tschitschikowski oder wie er heißt keine Kreuzfahrten. Wahrscheinlich machen die wenigsten Leute, die im Amrumring wohnen, viele Kreuzfahrten. Dann schon eher mal mit dem Perso nach Dänemark. Aber auch das kann sich dieser Martin jetzt abschminken. Der Perso steckt ja auch in dem abgegriffenen Portemonnaie.

      Als sie das denkt, wird sie in ihrem Lieblingsstuhl am Fenster in der Küche auf einmal ganz steif.

      Vielleicht kann sich Martin ja überhaupt alles abschminken, weil er nämlich gar nicht mehr lebt, der gute Martin, und sein Mörder hat den Kram vergraben, um irgendwann später, wenn genügend Gras über ihn gewachsen ist, als leicht veränderter Martin mit dessen Pass, Perso und Führerschein aus der Versenkung aufzutauchen.

      Ja, schau, schau, die gute Frau Heerten! Nicht nur Märchen und Sagen, ein gerüttelt Maß an Krimis muss sie über die Jahre auch verschlungen haben.

      Sie nimmt noch mal die Lupe zur Hand: Szupryczynski. Polnisch. Also spricht man es Schupritschinski aus. Jahrgang 1981, fast so alt wie Karin. Ob sich die beiden gekannt haben? »Der Schuppi«, hört sie Karins süße Jungmädchenstimme auf einmal