Kieler Bagaluten. Henning Schöttke. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Henning Schöttke
Издательство: Bookwire
Серия: K üsten Krimi
Жанр произведения: Языкознание
Год издания: 0
isbn: 9783960416883
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Vitrine stehen hat. Die machen sich immer ganz wunderbar auf der Kaffeetafel.

      Ja, und gerade das ist jetzt die Krux. Dass die Gläschen immer noch samt Eierlikör neben der Spüle stehen. Die Gläschen sind von ihrer Großmutter und wandern selbstverständlich nicht in die Spülmaschine, sondern werden von Hand gespült. Aber eben nicht gleich. Deshalb stehen sie heute noch da, und deshalb genehmigt Frau Heerten sich jetzt einen – schon am Vormittag.

      Ist aber ja nur Eierlikör, also ein Likörchen, da hört man schon am »chen«, wie harmlos der ist. Genau genommen gar kein Alkohol. Mehr so was wie Klosterfrau Melissengeist. Auch kein Alkohol, sondern ganz was Gutes. Wie der Name schon sagt: Klosterfrau. Eine Ordensschwester ist was Heiliges. Und Melisse ist was Heilendes. Der Eierlikör hat auch ein »ei« von heilig, also Labsal für die Seele – Prost, denkt sie und gießt das Eierlikörchen in sich hinein – und ebenso von heilend, Labsal für den Körper.

      Prost.

      Nur das »Geist« in Klosterfrau Melissengeist könnte einen stutzig machen, weil verdammt dicht an dem Wort »Weingeist« dran und damit eindeutig Alkohol. Aber wer denkt bei Klosterfrauen schon an Weingeist? Da liegt der Heilige Geist wirklich näher.

      Prost.

      Alles in allem ist Eierlikör – genau wie Klosterfrau Melissengeist – ein ganz harmloses Trösterchen für die Frau. Nur eben nicht mehr nach dem sechsten oder siebten. Dann wird so ein Likörchen zu einem ausgewachsenen Likör mit all seinen alkoholischen Nebenwirkungen. Zumal bei Frau Heerten, die in Sachen Alkohol verhältnismäßig ungeübt ist. Aber sie braucht das jetzt. Nach ihrem Kraftakt am Büfett ist sie völlig fertig. Das siehst du schon daran, dass sie sich einfach irgendein Glas von der Spüle nimmt und die Chancen, dass es ihr Glas von gestern ist, allenfalls eins zu vier stehen.

      Ich will nicht behaupten, dass sie schwankt, als sie aufsteht. So nun nicht. Aber sie greift zu Mantel und Autoschlüsseln, und das ist doch ein wenig bedenklich. Bei Alkohol am Steuer hat sie normalerweise ihre Prinzipien. Wer keine Prinzipien hat, kennt auch keine Grundsätze, hat Armin immer gesagt, Gott hab ihn selig.

      Doch in ihrem jetzigen Zustand – und vor allem wegen des Zustands im Wohnzimmer – wirft sie ihre Prinzipien samt Grundsätzen einfach über Bord. Rein ins Auto und los. Sie muss weg hier. Einfach nur weg.

      3

      Frau Heerten ist noch nicht weit gekommen, da macht es »Rums!« und dann hoppel, hoppel. Was war das denn? So betrunken, dass sie an eine Unebenheit in der Fahrbahndecke glaubt, ist sie nun doch nicht, vor allem hier zwischen den beschaulichen Einfamilienhäuschen in den Straßen des beschaulichen Suchsdorf.

      Als sie aussteigt, sieht sie die Katastrophe.

      Ja, tatsächlich, totale Katastrophe. Die kleine Maunzi von nebenan! Schrecklich. Völlig verquer liegt sie unter dem Auto und gibt keinen Maunz mehr von sich.

      Was ist das nur für ein schrecklicher Tag. Da hätte sie doch eigentlich vorher ahnen müssen, wie schrecklich er werden wird. Hat man ja oft, dass man was ahnt und weiß: Heute bleibe ich am besten den ganzen Tag im Bett. Aber sie? Nix. Morgens ganz normal Kaffee getrunken, Tabletten genommen, Staub gewischt, nicht die leiseste Ahnung, von nichts. Und dann läuft der Tag so völlig aus dem Ruder. Erst der Wisch über das Wohnzimmerbüfett, dann der Suff und jetzt die Katze. Wer weiß, was noch wird. Schließlich ist erst Vormittag.

      Wie in Trance greift sie die Katze, geht ums Auto herum, klappt den Kofferraum auf und legt Maunzi in den Pappkarton, den sie immer für ihr Altglas spazieren fährt. Klappe wieder zu und weiter. Gut, dass es inzwischen elf Uhr ist, da sind keine Schulkinder auf der Straße. Hätte sonst gut sein können, dass sie in ihrem desolaten Zustand auch noch zwei, drei Schüler samt Schulranzen übermangelt. Das Gedränge im Kofferraum mag man sich gar nicht vorstellen.

      Ganz benommen kurvt sie mit ihrem Auto weiter durch Suchsdorf. Erst allmählich wird ihr klar, dass sie hinten im Wagen eine tote Katze hat. Noch dazu eine, die sie kennt, Maunzi, die schon so oft bei ihr auf der Terrasse ein Schälchen verdünnte Milch geschlabbert hat. Da will sie gar nicht wissen, was Herr Wagner sagt, wenn er hört, dass sie seine Katze überfahren hat.

      Sie atmet heftig aus. Herr Wagner wird es vielleicht nehmen wie ein Mann, aber seine beiden Kinder? Wie oft sind Felix und Mia mit Maunzi auf dem Arm von der Gartenpforte her zu ihr gekommen, haben sich neben sie ins Gras gehockt und erzählt. Ganz so, wie Enkelkinder es tun beziehungsweise wie sie sich vorstellt, dass ihre Enkelkinder es täten, wenn sie welche hätte. Aber sie hat ja keine. Wenn man mal von dem Mainzelmännchen und Wum absieht.

      Wie sagt man zwei Kindern, dass ihre geliebte Katze tot ist, weil man eine halbe Flasche Eierlikör mit zwei Schlückchen Klosterfrau Melissengeist verwechselt hat? Weil man nicht mehr im vollen Besitz seiner geistigen Kräfte war? Und es nicht mehr geschafft hat, der schwarzen Katze auszuweichen. Beziehungsweise sie überhaupt nicht gesehen hat, als sie über die Straße lief. Von links nach rechts – bringt schlecht’s. So geht das Sprichwort, obwohl sie überlegt, dass von rechts nach links – Glück bringt’s nicht wesentlich besser gewesen wäre. Zumindest nicht für Maunzi.

      Frau Heerten fährt an den Straßenrand, stellt den Motor ab und versucht nachzudenken. Am besten, die Katze ist einfach weg. Sie wird sie bis zum Abend im Kofferraum liegen lassen und dann in der Dunkelheit in irgendeine entfernte Mülltonne werfen. Ja, so wird sie es machen. Gerade will sie den Motor wieder anlassen, da wird ihr klar: So geht es nicht. Ein bisschen ein anständiges Begräbnis, das muss schon sein. Im Garten. Vielleicht bei dem kleinen Johannisbeerstrauch. Ein kleines Kreuz drauf, das wäre anständig.

      Klar, total anständig. Und alles andere als geschickt. Besonders wenn gerade in diesem Augenblick Felix und Mia rüberkämen und ihr erzählten, dass Maunzi weg ist. Selbst wenn die beiden Kleinen nicht kämen und sie vielleicht – Pietät hin, Pietät her – das Kreuz wegließe, würde der Fleck im Rasen sie immer wieder an diesen Tag erinnern. Quasi vorprogrammierte psychische Folter. Nein, das geht nicht.

      Es dauert noch eine ganze Weile, bis sie endlich auf das einzig Richtige kommt: Sie wird die Katze in der Abenddämmerung irgendwo an der Uferböschung vom Nordostseekanal heimlich vergraben, und niemand wird je davon erfahren. Oder hat vielleicht irgendwer gesehen, wie sie die Katze überfuhr? Kennt man ja, die Hausfrauen, die den Vormittag mit Kissen auf dem Fensterbrett verbringen. Nein. Nicht in Suchsdorf. Ich will jetzt nicht behaupten, dass Suchsdorf die beste Gegend Kiels ist – das ist unangefochten Düsternbrook – oder auch nur die zweitbeste. Das ist Kronshagen, das sich sogar weigert, zu Kiel zu gehören. Aber es ist doch immerhin eine der besseren Gegenden. Auch hier sind die Eigenheime nicht umsonst. Deshalb geht die Suchsdorfer Hausfrau brav sich selbst verwirklichen und schafft mit an.

      Frau Heerten gedenkt, erst mal nach Hause zu fahren, die Dunkelheit abzuwarten, den Spaten aus dem Keller zu holen, ihn in den Kofferraum zu packen und … da fällt ihr ein, eine Katze hat ja sieben Leben. Beim Öffnen der Kofferraumhaube wird ihr Maunzi bestimmt ins Gesicht springen. Natürlich nur, wenn sie ihre sechs anderen Leben nicht schon verballert hat.

      Frau Heerten wird richtig schwindelig, als sich die sieben Katzenleben wie ein Rad in ihrem Kopf drehen. Das wäre ja geradezu großartig, wenn die Katze noch lebte und nachher munter aus dem Auto hüpfte. Wunderbar. Und ihre beiden Adoptiv-Enkelkinder lieben sie weiterhin so innig wie eh und je. Fast wäre sie auf der Stelle ausgestiegen, um die Katze zu befreien. Doch bei Maunzi handelt es sich nicht um eine Wildkatze, sondern um ein vielleicht etwas degeneriertes Stadtkätzchen. Fraglich, ob sie den Weg nach Hause findet.

      Endlich hat Frau Heerten die Kraft, den Wagen zu wenden und langsam wieder zurückzufahren. Sie parkt ihr Auto rückwärts an der Ligusterhecke und öffnet die Kofferraumhaube von der Seite her, damit die Katze an ihr vorbeispringen kann, ohne ihr das Gesicht zu zerkratzen. Aber nichts rührt sich. Maunzi liegt noch genau so in der Kiste, wie sie sie hineingelegt hat.

      Am liebsten wäre Frau Heerten jetzt ins Haus gelaufen und hätte sich versteckt. Wie damals als Kind. Einfach die Hände vors Gesicht schlagen und rufen: Ich bin nicht da. Und wenn sie die Hände runternimmt, ist alles wieder gut. Die Bilder stehen heil