In keinem anderen Auto wurde die Weltgeschichte so nachhaltig verändert wie in diesem. Das amtliche Kennzeichen »A 111 118« ist heute noch montiert – und das, obwohl der Motor des Gräf & Stift-Wagens seit dem 28. Juni 1914 nicht mehr angelassen wurde. Seit jenem Tag also, an dem der Thronfolger Franz Ferdinand und seine Gemahlin Sophie in der offenen Limousine durch Sarajewo fuhren. Neunzig Jahre nach den Schüssen, die den Ersten Weltkrieg auslösten, wurde die Geschichte dieses Autos wieder lebendig. Ein spektakuläres Gerichtsverfahren ließ das Fahrzeug in den Blickpunkt der Öffentlichkeit geraten.
Die alte Dame empfängt mich auf ihrem Gut im oberösterreichischen Aschach. Alice Dreihann-Holenia ist die Tochter des Grafen Franz Harrach, dem das Auto von Sarajewo gehörte. Er hatte den Wagen an jenem schicksalhaften Tag dem Thronfolger zur Verfügung gestellt und stand selbst auf dem Trittbrett, nur wenige Zentimeter von den beiden Opfern entfernt, als die Todesschüsse fielen.
Graf Harrach hatte Glück, er überlebte das Attentat des Studenten Gavrilo Princip unverletzt. Und doch konnte er mit seinem Schicksal nicht fertig werden. Der Schock, neben dem sterbenden Thronfolger zu stehen, ohne ihn schützen zu können, hatte sich tief in seine Seele gebrannt. Franz Harrach hat das Erlebte aufgeschrieben, doch blieben die Aufzeichnungen des Tatzeugen bisher unveröffentlicht. Seine Tochter ließ mich erstmals Einblick nehmen.
»Bin unverletzt. Franz.« Das waren die erlösenden Worte, auf die seine Familie sehnsuchtsvoll gewartet hatte. Das erste Telegramm nach dem Attentat traf noch am Abend des 28. Juni 1914 in Karlsbad ein, wo seine Frau gerade auf Kur weilte. »Man muss sich vorstellen, wie groß die Sorge in meiner Familie war, als die Schreckensmeldung aus Sarajewo kam«, erklärte mir Graf Harrachs bald neunzigjährige Tochter. »Das ahnte mein Vater natürlich, und deshalb hat er meiner Mutter auch sofort in die böhmische Sommerfrische telegrafiert.«
Ihr Vater war ein enger Freund des Thronfolgers, setzte die Baronin Alice Dreihann-Holenia ihre Erzählung fort, »und das war auch der Grund, warum er ihm das Auto zur Verfügung stellte, als dieser durch Sarajewo fuhr«. Harrachs Name ist in jeder Franz-Ferdinand-Biografie erwähnt, weil er das Leben des Thronfolgers schützen wollte, indem er ihn mit seinem eigenen Körper abzudecken versuchte. Da der Graf auf dem linken Trittbrett unmittelbar vor Franz Ferdinand stand, die Kugeln des Mörders jedoch von rechts kamen, schlug sein heldenhaftes Verhalten fehl.
Franz Harrach war ein wohlhabender Mann. Er besaß mehrere Schlösser in Mähren, ein Stadtpalais in Wien und das Gut in Aschach. Sein berühmtester Besitz ist aber der Gräf & Stift-Wagen, in dem sich die Geschichte des 20. Jahrhunderts auf dramatische Weise verändern sollte.
Rund neun Jahrzehnte nach dem Attentat ist um das historische Gefährt ein heftiger Rechtsstreit entbrannt. Während seine Tochter die Rückgabe des Wagens fordert, weigert sich die Republik Österreich, diesen dem Heeresgeschichtlichen Museum zu entziehen.
Der 32 PS starke, durch mehrere Einschusslöcher beschädigte Vierzylinder, Jahrgang 1910, wurde wenige Wochen nach dem Mordanschlag in das Wiener Heeresmuseum gebracht, als dessen Prunkstück er seither zu besichtigen ist. Auf einer vor dem Auto aufgestellten Tafel ist bis heute nachzulesen, dass der Wagen dem Thronfolger auf seiner Fahrt durch Sarajewo vom Grafen Harrach »zur Verfügung gestellt« worden war.
Demnach ist unbestritten, dass Harrach zum Zeitpunkt des Attentats der rechtmäßige Eigentümer des Fahrzeugs war. Unterschiedlich sind nur die Ansichten darüber, was danach geschah. Während die Republik Österreich davon ausgeht, dass Harrach das Auto dem Kaiser schenkte, wird dies von Franz Harrachs Tochter bestritten: »Mein Vater hat das Auto, nachdem die Spurensicherung abgeschlossen war, leihweise dem Kaiser Franz Joseph überlassen, der es für Ausstellungszwecke an das Heeresmuseum weiterreichte.«
Tatsächlich gibt es keinen Beleg dafür, dass Harrach das Fahrzeug je verschenkt oder verkauft hätte. Das Museum konnte dem Gericht lediglich einen Brief des Feldzeugmeisters Oskar Potiorek vorlegen, dem zu entnehmen ist, dass der Gräf & Stift »vom Besitzer Franz Graf Harrach Seiner Majestät zur Verfügung gestellt« und vom Kaiser »dem k. u. k. Heeresmuseum einverleibt wurde«.
»Von einer Schenkung kann keine Rede sein«, erklären Ludwig Draxler und Partner, die Rechtsanwälte der Klägerin. »Herr Potiorek (er war Landeschef von Bosnien-Herzegowina, Anm.) konnte nicht über ein Auto verfügen, das ihm gar nicht gehörte.«
Die in ihren Augen unkorrekte Beweisführung ist der Grund dafür, dass sich die Anwälte, nachdem das Verfahren sämtliche österreichische Instanzen durchlaufen hatte, an den Europäischen Gerichtshof in Straßburg wandten, wo das Verfahren zurzeit anhängig ist*.
Die Frage liegt nahe, ob der Fall – neunzig Jahre nach Sarajewo – nicht längst verjährt ist.
»Nein«, erklären die Anwälte, »Eigentum kann nicht verjähren. Die Klägerin bzw. ihr Vater haben nie auf das Fahrzeug verzichtet, es war dem Kaiser 1914 auf unbestimmte Zeit überlassen und von diesem dem Museum übergeben worden, weshalb es bisher auch nie einen Grund für eine Klage gegeben hat. Dies geschah erst, als sich das Museum weigerte, der Baronin Dreihann-Holenia den Wagen auf deren Anfrage rückzuerstatten.«
Sie hatte vorerst einen Brief an das Verteidigungsmuseum gerichtet, »in dem es uns nicht darum ging, den Besitz des Autos einzufordern«, erklärt Nikolaus Dreihann-Holenia, der Sohn der Klägerin. »Wir wollten nur die Eigentumsverhältnisse klarstellen und hätten es auch weiterhin als Ausstellungsstück zur Verfügung gestellt. Erst als Ministerium und Museum uneinsichtig reagierten, gingen wir zu Gericht.«
Dass auf dem Wagen heute noch die amtlichen Kennzeichen »A 111 118« montiert sind, werten die Anwälte als weiteres Indiz dafür, dass Franz Harrach, so lange er lebte, der rechtmäßige Eigentümer der Limousine war, »sonst wären ihm die Nummerntafeln entzogen worden«.
Für Manfried Rauchensteiner, den Direktor des Heeresgeschichtlichen Museums, das den Wagen seit Jahrzehnten beherbergt, handelt es sich »um das bei weitem bedeutendste Fahrzeug der Geschichte des 20. Jahrhunderts. Schließlich hat der Tod des Thronfolgers in diesem Wagen indirekt zwei Weltkriege ausgelöst«. Aus seiner Sicht ist »völlig klar, dass dieses Auto Eigentum der Republik Österreich ist und nirgendwo anders hingehört als in das Heeresgeschichtliche Museum«.
Letztlich führte mich der Prozess um das Auto zu den bisher unveröffentlichten Aufzeichnungen des Kronzeugen Franz Harrach, der sich – als ihm nach dem Attentat die Tragweite des Erlebten fassbar zu werden begann – in einem vier Seiten langen Brief an seine Frau die seelische Belastung von der Seele schrieb. Es ist ein berührendes Dokument, zumal niemand sonst dem tragischen Geschehen so nahe war wie der Aristokrat, dessen Erinnerungen in den zahlreichen einander widersprechenden Zeugenaussagen besonderes Gewicht haben:
»Liebster Schatz«, schreibt er, »unter dem Drucke des Entsetzlichsten, was Menschenphantasie sich bilden kann, schreibe ich dir, gedrückt von dem Gedanken, selbst unberührt geblieben zu sein. Wo man hinsah, krachte etwas, Kapsel, Bombe … es war ein gesperrtes Jagen, es gab kein Entrinnen mehr, die Würfel waren gefallen. Sie waren Helden als Fürsten und als Menschen. Sie starben in Ausübung ihres Berufes, ihrer Pflicht, und als sich vor den zwei Särgen die Fahrer neigten, wenn das Volk, das arme, aufschrie in einem einzigen großen Schrei, der sich mit Elementargewalt zum Himmel erhob, da dachte ich im Herzen: Ihr großen Helden seid nicht ganz umsonst als Opfer eures Vaterlandes geschlachtet worden, nein!«
Nach diesen einleitenden Worten schildert Franz Harrach den Tathergang: »Sie (die Frau des Thronfolgers, Anm.) sagte zu ihm, als sie beide die Schüsse trafen: ›Um Gotteswillen, was ist dir geschehen?‹, sank auf ihre Knie, mit dem Gesicht auf seinen Knien, und es war vorbei. Aus seinem Munde spritzte sofort ein dünner Blutstrahl auf meine Backe, er wurde steif mit aufgerissenen Augen und sagte, die Hände auf ihren Schultern: ›Sopherl, stirb mir nicht, bleib mir für die Kinder.‹ Ich hielt ihn am Kragen und sagte: ›Kaiserhoheit müssen furchtbar leiden.‹
Er sagte: ›Oh nein, es ist nichts.‹ Dann murmelte er weiter, schwieg, worauf Blutröcheln begann, das mit einem Blutsturz