Erst nach einer Garantieerklärung meinerseits, dass ich keineswegs an Barschels Badewanne interessiert sei, sondern einen Bericht über Kaiserin Elisabeth schreiben wollte, erschien Madame Catherine Mayer, die Chefin. Unterm Arm ein riesiges Paket Unterlagen und Fotos zu »Sisis« Tod im Appartement 119/120 des Beau-Rivage.
Man ist, so hat’s den Anschein, geradezu stolz darauf, dass Österreichs Kaiserin im familieneigenen Hotel ihren letzten Atemzug tat, will mit der Affäre Barschel jedoch absolut nichts zu tun haben.
Verbleiben wir also zunächst beim von der Direktion »zugelassenen« Fall in der Hotelchronik. Kaiserin Elisabeth war am 9. September 1898 in Genf angekommen, wo sie sich unter dem Pseudonym »Gräfin von Hohenembs« einquartierte. Eine Schweizer Zeitung lüftete tragischerweise das Inkognito und berichtete, dass Ihre Majestät im Beau-Rivage (auf Deutsch: Schönes Ufer) abgestiegen sei. Als der 25-jährige Anarchist Luigi Lucheni diese Zeilen las, sah er seine große Stunde gekommen. Seit Monaten schon wollte er »irgendein Attentat« verüben, doch konnte er diesen Plan mangels einer geeigneten, in Genf weilenden prominenten Persönlichkeit nicht verwirklichen.
Tags darauf, als Elisabeth um 13.38 Uhr mit ihrer Hofdame Irma Gräfin Sztáray, nur ein paar Schritte vom Beau-Rivage entfernt, am Kai das Linienschiff nach Montreux besteigen wollte, stach Lucheni mit einer spitzen Feile zu. »Die Kaiserin sank zur Erde«, gab die Gräfin Sztáray später als Zeugin des Mordanschlags der Genfer Polizei zu Protokoll, »da erst kam mir der Gedanke, dass das Scheusal Ihre Majestät geschlagen haben musste.«
Trotz ihrer schweren Verletzung konnte die Kaiserin noch bis zum Schiff gehen, auf dem sie dann ein zweites Mal zusammenbrach.
»Was ist denn mit mir geschehen?« waren Elisabeths letzte Worte, ehe man sie in bewusstlosem Zustand zum Beau-Rivage zurückbrachte.
Das Hotel wurde damals von Charles-Albert und Fanni Mayer, den Großeltern der heutigen Besitzerin, geführt. »Ich kann mich noch gut an die Erzählungen meiner Großmutter erinnern«, hob Catherine Mayer an (die trotz ihres Namens kein deutsches Wort beherrscht). »Meine Großmutter stand dort drüben in der Halle«, zeigte sie in das mit prächtigem Marmor geschmückte Atrium im Erdgeschoß, »als die schwer verletzte Kaiserin auf einer improvisierten Bahre aus Segelleinen und zwei Schiffsrudern im Haus ankam, worauf sofort der Hotelarzt Dr. Golay gerufen wurde.«
Großmama Fanni Mayer hinterließ ein paar dicht beschriebene Bogen Papier, auf denen sie die historisch gewordenen Ereignisse des 10. September 1898 in französischer Sprache schildert. Ihre Enkelin Catherine zeigte mir das bisher unveröffentlicht gebliebene Dokument: »Sechs Damen und sechs Herren trugen die schwer verletzte Kaiserin in das Hotel, während unser Geschäftsführer Elisabeths Hand hielt. Ich verfolgte diesen so traurigen und entsetzten Zug bis hinauf in den ersten Stock zum Appartement, das die Kaiserin bewohnte. Dr. Golay sagte, er könne nicht mehr helfen, der Blutverlust sei zu hoch, was an einem immer größer werdenden Fleck am Herzen zu beobachten war. Ihren letzten Seufzer gab Elisabeth ungefähr zwanzig Minuten nach ihrer Ankunft im Hotel. Comtesse Sztáray schloss in Anwesenheit eines Priesters ihre Augen und legte ihr beide Hände zusammen.«
Einige Zeit weilte die Kaiserin unter demselben Dach wie ihr Mörder, ist den Aufzeichnungen der Hotelchefin Fanni Mayer zu entnehmen: »Passanten verfolgten den Attentäter und hielten ihn fest, bis ihn ein Gendarm verhaften und in unser Hotel bringen konnte. Hier versetzte mein schockierter Gatte dem Mörder einen heftigen Schlag ins Gesicht, und der Gendarm musste einen jungen österreichischen Baron daran hindern, sich auf Lucheni zu stürzen. Nach einer kurzen Einvernahme im Hotel wurde der Gefangene zum Polizeirevier befördert.«
Zu diesem Zeitpunkt war Kaiserin Elisabeth bereits verstorben. Mit einem Porträt der jungen »Sisi« in deren Sterbezimmer 119/120 wird im Beau-Rivage bis heute des Dramas gedacht.
Knapp neunzig Jahre später ereignete sich, zwei Stockwerke höher, eine ganz andere Tragödie. Der wegen einer nie restlos geklärten Politaffäre seines Amtes enthobene Ministerpräsident Uwe Barschel nahm sich am 10. Oktober 1987 in der Badewanne des Zimmers 317 im Beau-Rivage das Leben. »Das Appartement wird seither nur an nicht-europäische Gäste vermietet, die vermutlich nie vom Fall Barschel gehört haben«, erzählte mir ein Stubenmädchen hinter vorgehaltener Hand. Das »Sisi-Zimmer« hingegen gilt als Attraktion des Hauses und ist zum Preis von 2750 Franken pro Nacht für jeden, der sich’s leisten kann, beziehbar.
Durch den Tod der Kaiserin erlangte das Hotel – in dessen Seitentrakt am Quai du Mont-Blanc lange Zeit das österreichische Generalkonsulat untergebracht war – große Berühmtheit. Es gibt sogar den Plan, darin ein Elisabeth-Museum zu eröffnen. Die Familie Mayer – urgroßväterlicherseits wie »Sisi« aus Bayern stammend – hat für diesen Zweck eine umfangreiche Sammlung angelegt, in der sich unter anderem ein Originalkleid der Kaiserin befindet. Den Grundstock für die Erinnerungsstätte bilden ein paar Habseligkeiten Elisabeths, über deren Herkunft Fanni Mayer ebenfalls in ihrer Niederschrift vom Tag des Mordanschlags berichtet: »Die Kaiserin wurde einbalsamiert und in ihren Sarg gelegt. Am Abend gab die Comtesse Sztáray mir und meinem Mann eine Rose, die sie dem Sarg entnommen hatte und die ich sorgfältig behüte. Außerdem händigte sie mir ein malvenfarbenes, vom Blut der Kaiserin beflecktes Stück eines Bandes aus.«
Diese Gegenstände werden seither in einem kleinen Glasschrank aufbewahrt.
Neben Elisabeth und dem Ministerpräsidenten Barschel ist auch der Herzog von Braunschweig – vor mehr als hundert Jahren freilich schon – im Beau-Rivage verschieden. »Eines natürlichen Todes«, wie sich die Hotelchefin anzufügen beeilte. Dann schmunzelte sie noch: »Wir sind aber sicher, dass in unserem Haus mehr Menschen gezeugt wurden als verstorben sind.«
Die Hotelchronik gibt darüber keine Auskunft. Doch sind die Lebenden wohl nicht so berühmt geworden wie die hier Verstorbenen.
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