»DER FÜR DAS HOHE C GEBORNE«
Das Wunder Caruso
Sicher, auch Bass und Bariton haben ihre Verehrer – der Tenor jedoch wird angebetet, bewundert, geliebt. Wer aber war der größte aller Tenöre? Um diese Frage nicht selbst beantworten zu müssen, stellte ich sie einem, der selbst in der allerersten Garnitur mitspielt. Luciano Pavarotti.
Er musste nicht eine Sekunde nachdenken. »Caruso ist und bleibt der Größte«, sagte er. »Caruso war der Wahrhaftigste von allen, er wäre auch heute noch modern, es hat nie einen Besseren gegeben.« Pavarotti weiß das so genau, weil er mit ihm aufgewachsen ist: »Mein Vater hat mir alle seine Platten vorgespielt, und wir haben im Radio immer nur Carusos Stimme gesucht. Er war mein Leitstern auf dem Weg zur Bühne.«
Enrico Carusos Karriere war tatsächlich einzigartig: am 25. Februar 1873 als achtzehntes Kind einer armen Arbeiterfamilie in Neapel zur Welt gekommen, bettelte er sich als Straßensänger durchs Leben, um die ersten Gesangsstunden finanzieren zu können. Doch niemand wollte an ihn glauben. »Deine Stimme klingt wie der Wind, der durchs Fenster pfeift«, meinte sein Lehrer.
Tatsächlich überschlug sich das später so berühmte Organ fortwährend, und vom legendären Hohen C konnte noch lange keine Rede sein. Mit 21 debütierte er bei einer Wandertruppe in seiner Heimatstadt, in den folgenden Jahren trat er ohne besonderen Erfolg an verschiedenen Provinzbühnen auf, ehe er 1898 im Mailänder Teatro Lirico in Umberto Giordanos Oper Fedora den Durchbruch schaffte. Dennoch lehnte ihn Puccini zwei Jahre später für die Uraufführung seiner Tosca in Rom ab. Gegen alle Widerstände kämpfte Caruso mit ungeheurer Disziplin weiter, bis London, Mailand, Berlin und New York riefen. 1902, als Herzog von Mantua in Verdis Rigoletto an der Covent Garden Opera, wurden erstmals das Außergewöhnliche seiner Stimme, seine darstellerische Kraft und seine bahnbrechende Persönlichkeit gewürdigt. Als er zwischen 1906 und 1913 – insgesamt nur 14-mal – an der Wiener Hofoper auftrat, lag ihm die Stadt zu Füßen. Keinem anderen Sänger war hier je die Phantasiegage von 12 000 Kronen* pro Vorstellung ausbezahlt worden. Der Wiener Schriftsteller Robert Weil drückte die Stimmung in einem unter dem Pseudonym Homunkulus verfassten Gedicht mit dem Titel Caruso in Wien aus:
Was rennt das Volk, was wälzt sich dort
Die langen Gassen brausend fort?
Steht etwa gar der Ring in Flammen?
Es läuft die halbe Stadt zusammen,
Fahrzeuge schießen her und hin,
In hellem Taumel steht ganz Wien,
Nie vor der Oper ging’s noch zu so:
Heut singt Caruso!
Die Presse kündete es laut:
»Das ist das Wunder, kommt und schaut,
Das jede Konkurrenz bezwungen,
Das sich die höchste Gage ersungen,
Dem in der Welt, der neuen, alten,
Kein Sänger den Tarif kann halten;
So ein Tenor wie sein Tenor,
Kommt niemals nimmer nie nicht vor.
Dafür sind doch genug Beweise,
Vierfach erhöhte Eintrittspreise …«
Jetzt hebt der Vorhang sich hinauf;
Ein Schauder bebt: Denn Er tritt auf,
Der Einzige! Der Auserkorne!
Der eigens für das C Geborne,
Zu viel nicht sagten die Tiraden:
Herrgott, was hat der Mann für Waden!
Herrgott, wie ist die Brust so rund!
Doch still, jetzt öffnet er den Mund!
Er räuspert sich! Achtung! Er zuckt!
Achtung! Er gluckt! Er schluckt! Er spuckt!
Und jetzt: Er singt! Schon singt er A,
Schon singt er B! Schon singt er Ha!
Und jetzt – jetzt kommt’s: Hurra, das C!
Das ganze Haus schnellt in die Höh’
Es ist, als zündete der Blitz,
Die Frauen halten sich am Sitz,
Die Mägdlein alle fasst ’ne Rage,
Es wölbt sich hoch die Decolletage,
Mit Ohren, Lippen, Wangen, Augen,
Sucht man das Wunder einzusaugen,
Und die Prinzessin haucht ganz fahl:
»So einer wär’ mein Ideal!« …
»In der Tat war Caruso ein dreifaches Phänomen«, erzählte mir Marcel Prawy. »Erstens war er wirklich der größte Tenor aller Zeiten, zweitens war er der Erste, für den die amerikanische Reklamemaschine voll einsetzte, und drittens war er der erste Plattenstar.«
Und was für einer. Die Platte hat nicht nur Carusos weltweite Popularität begründet, er war es auch, der den Siegeszug des noch jungen Mediums ermöglichte, schafften sich doch Millionen Menschen auf allen Kontinenten ihre Grammofone nur an, um das »Wunder Caruso« mit eigenen Ohren erleben zu können. Der britische Plattenproduzent Fred Gaisberg – der mit ihm in der Rekordzeit von zwei Stunden zehn populäre Opernarien aufnahm – brachte es auf den Punkt, als er über Caruso sagte: »He made the gramophone!« Trotz mangelhafter Aufnahmetechnik – anfangs noch mit dem Edison-Zylinder – lässt sich seine überragende Gesangsqualität heute noch erahnen.
Caruso hatte in seinem Repertoire 500 Lieder und 67 Opernpartien, die er jederzeit ohne Vorbereitung beherrschte. Er selbst definierte seinen Erfolg so: »Eine große Brust, ein großer Mund, neunzig Prozent Gedächtnis, zehn Prozent Intelligenz, eine Menge harter Arbeit und ein kleines Etwas im Herzen.«
Zwischen Bühnenruhm und privatem Glück lagen freilich Welten, wie Enrico Caruso leidvoll erfahren musste: seine langjährige Lebenspartnerin Ada, als Opernsängerin eher mittelmäßig, ging – nachdem sie ihm vier Kinder geschenkt hatte – mit seinem Chauffeur durch. Der Startenor, einer der größten Frauenhelden aller Zeiten, hat diese Schmähung nie verkraftet. Er starb 1921 im Alter von nur 48 Jahren.
* Die Summe entspricht lt. Statistik Austria im Jahre 2002 rund 45 000 Euro.
TOD IM HOTEL
Mein Besuch im Genfer Beau-Rivage
Das Beau-Rivage, an der eleganten Uferpromenade des Genfer Sees gelegen, ist ein prachtvoller alter Bau. Ein Hotelpalast, vergleichbar mit dem Imperial in Wien oder dem Ritz in Paris. Im Gästebuch findet sich die Weltprominenz der letzten hundert Jahre. Ein gutes Dutzend gekrönter Häupter, der Herzog von Windsor mit seiner Wallis Simpson, General de Gaulle und Edward Kennedy, die Millionäre Astor, Rockefeller und Vanderbilt, etliche Maharadschas und russische Großfürsten. Aber auch Richard Wagner, Robert Schumann, Benny Goodman, Jean Cocteau, Charlie Chaplin oder Clark Gable sind hier abgestiegen. Zwei Namen brachten das Hotel freilich