In den nächsten Tagen und Wochen berichten deutsche Zeitungen über den ersten Kameruner Kolonialskandal. Der Berliner Volksmund kreiert für Leists und Wehlans Umgang mit der Peitsche den Begriff »Tropenkoller«, während die Berliner Beamten vor allem versuchen, die Identität jenes Anonymus zu lüften, der im Berliner Tageblatt mit seinen Tagebuchblättern eines in Kamerun lebenden Deutschen die Öffentlichkeit mit blutigen Details aus der Kolonialverwaltung versorgt. Es ist nicht so, dass der 31 Jahre alte Wilhelm Vallentin grundsätzliche Einwände gegen die koloniale Eroberung Afrikas hätte. Im Gegenteil, einige Jahre später wird der Nationalökonom und Forschungsreisende Die Buren und ihre Heimat, so der Titel seiner Studie, als hoher Beamter der südafrikanischen Republik Transvaal literarisch und als Artillerist gegen Lord Kitchener verteidigen. Aber offensichtlich ist Vallentin – anders als Leist und Wehlan – der Auffassung, dass die effiziente Herrschaft der Peitsche maßvollen Umgang voraussetzt. In seinen Tagebuchblättern berichtet er über Gerichtstage unter dem Vorsitz Wehlans: »Am 4. V. 93 […] Eine Frau (Schwarze) verklagt ihren Mann, weil er sie schlecht behandle. Ohne irgend welche Beweisaufnahme und Zeugenverhör wird der Mann zu 50 Hieben verurteilt und die Strafe sogleich vollstreckt. Ein Schwarzer, Aug. Bell, ist beschuldigt, eine Uhr gestohlen zu haben. Er wird vorgeführt. Das erste, was ihm vorgehalten wird, ist: es giebt zweierlei Wege, entweder, er gesteht, er habe den in Frage stehenden Diebstahl begangen, oder er bekommt 50 Hiebe. Bell sagt aus: ›Nein, ich habe die Uhr nicht gestohlen‹. Sofort wird er abgeführt und erhält 50 Hiebe mit der Rhinocerospeitsche. Wieder vorgeführt gesteht er auf weiteres Befragen, dass er die Uhr gestohlen habe. Er wird darauf zu 6 Jahren Gefängnis […], 100 Mk Geldstrafe, und 15 Hieben am ersten Sonnabend jeden Monats verurteilt. Aug. Bell soll während jener vorerwähnten Verhandlung ca. 80 Hiebe bekommen haben […] Ein rohes, gehacktes Beafsteak ist nichts dagegen! Ein weiterer Fall! Herr Assessor Wehlan vermutet, dass sein Boy ihm Cigarren gestohlen habe. Auf Grund dieser Vermutung wird der Boy von ihm zu 20 Hieben verurteilt.«
Es sind die Veröffentlichungen Vallentins – seine Tagebuchblätter werden von mehreren Zeitungen nachgedruckt –, die den Stoff für die Reichstagsdebatte über die koloniale Praxis im deutschen Schutzgebiet Kamerun liefern, die im Februar 1894 beginnt. Die Mitteilungen der Reichsregierung sind es jedenfalls nicht. Zwar hat sie sogleich einen Regierungsrat für Ermittlungen nach Kamerun entsandt, im Übrigen aber hält sie sich mit Informationen zurück und warnt vor Vorverurteilungen. Vorsorglich stellt Kolonialdirektor Paul Kayser schon zu Beginn der Debatte fest, unabhängig von künftigen Erkenntnissen über die Praxis der Prügelstrafe in Kamerun halte er sie für unentbehrlich. Die hartnäckigsten Gegner der Kolonialpolitik im Reichstag sind die Sozialdemokraten, deren Sprecher August Bebel die Peitschen als »Kulturwerkzeuge«, die Prügelstrafe als »Produkt der sogenannten europäischen Zivilisation« verspottet und grundsätzlich zur deutschen Kolonialpraxis bemerkt: »Überhaupt ist die Prügelstrafe in großem Umfange allerwärts in unseren Kolonien im Schwange; sie kommt täglich, ich möchte sagen, stündlich als Hauptzuchtmittel zur Anwendung.« Und da sich etliche Abgeordnete »in vollständiger Unkenntnis der Sitten und Lebensgewohnheiten« der Afrikaner befänden, kündigt er an, am nächsten Sitzungstag einige Flusspferdpeitschen auf den »Tisch des Hauses« zu legen. Zwar versichert Reichskanzler Leo von Caprivi, im Bericht des Gouverneurs Zimmerer werde die Anwendung der Peitsche überhaupt nicht erwähnt, und er selbst, Caprivi, halte ihren Gebrauch auch für »unwahrscheinlich«. Doch löst Bebel sein Versprechen in der nächsten Reichstagssitzung ein und verteilt einige Flusspferdpeitschen unter den Abgeordneten. Allerdings ist damit für die Regierung nur die Existenz der Peitschen bewiesen, nicht aber ihr Einsatz auf Rücken und Gesäßen der Afrikaner. Kolonialdirektor Kayser erklärt die Misshandlungen zum Gerücht; er könne mit den »allgemeinen Redensarten« von der Prügelstrafe in den deutschen Schutzgebieten nichts anfangen und verbitte sich im Übrigen Verdächtigungen von »ehrenwerten Beamten«. Die Bereitschaft der Reichsregierung, die Vorwürfe aufzuklären, bleibt gering. Entsprechend sind die Konsequenzen.
Zwar neigt die Budgetkommission des Reichstags zur Ansicht, dass die »zugegebenen Thatsachen vollständig hinreichen, um hier einen scharfen Tadel zu motivieren«. Allerdings können sich die Abgeordneten – nach ausführlicher Beratung – nicht dazu entschließen, die Prügelstrafe grundsätzlich in Frage zu stellen: »Bei Expeditionen oder unter solchen Verhältnissen, wo eine Bestrafung durch Geld oder Haft entweder nicht ausführbar, oder nicht wirksam ist, da mag zu diesem Mittel geschritten werden, das ja in allen Kolonien üblich ist.« Am 22. April 1896 ergeht schließlich die »Verfügung des Reichskanzlers wegen der Ausübung der Strafgerichtsbarkeit und der Disziplinargewalt gegenüber den Eingeborenen in den deutschen Schutzgebieten von Ostafrika, Kamerun und Togo«. Danach ist die Prügelstrafe nur noch mit einem amtlich abgenommenen Züchtigungsinstrument zu vollstrecken und auf zweimal fünfundzwanzig Hiebe zu beschränken, die Züchtigung von Indern, Arabern und Frauen verboten. Allerdings regelt die Verfügung nicht, für welche Straftaten wie viel Prügel verabreicht werden dürfen. Ohnehin aber ändert sie an den Zuständen in Kamerun nichts – die Zahl der von der Kolonialverwaltung verhängten Prügelstrafen steigt mit jedem Jahr.
Diese Verfügung reagiert weniger auf den Leist-Wehlan-Skandal als vielmehr auf die deutsche Justiz. Heinrich Leist, noch Ende 1892 vom Großherzog von Sachsen mit dem »Ritterkreuz Zweiter Klasse des Ordens der Wachsamkeit und des Weissen Falken« dekoriert, muss sich am 16. Oktober 1894 vor der Kaiserlichen Disziplinar-Kammer Potsdam in öffentlicher Sitzung verantworten, nach der »für Recht erkannt wurde, dass der Angeschuldigte des Dienstvergehens schuldig und deshalb mit Versetzung in ein anderes Amt von gleichem Rang, jedoch mit Verminderung des Diensteinkommens um ein Fünftel zu bestrafen sei und die Barauslagen des Verfahrens ihm zur Last zu legen sind.« Das Urteil kommt einem Freispruch gleich, Reichstag und Öffentlichkeit protestieren, die Reichsregierung sieht sich genötigt, Rechtsmittel beim Reichsdisziplinarhof einzulegen, der am 6. April 1896 immerhin auf Dienstentlassung Leists erkennt, da sich »die Beamten in Afrika gemäß deutschen Sittlichkeitsvorstellungen einzurichten hätten«. Assessor Wehlan kommt mit einer Geldstrafe von 500 Reichsmark davon. Strafrechtlich aber werden weder der eine noch der andere von der Justiz behelligt. Kolonialdirektor Kayser begründet das folgendermaßen: »Ebenso [wie im Fall Leist] liegt es in dem Fall Wehlan wegen der von ihm begangenen Körperverletzung. Der Herr Abgeordnete Bebel sagte: wenn ihr ihn nicht als Richter bestrafen könnt, so bestraft ihn doch als Menschen! Das geht eben nicht. Wenn er nicht Richter gewesen wäre, so hätte er nach der Auffassung der Staatsanwaltschaft sich einer Körperverletzung schuldig gemacht. Da aber bis dahin das Verfahren gegen Eingeborene im Kamerun nicht geregelt war, da er als Richter eine Körperverletzung begangen hat, so kann er nach Auffassung der Staatsanwaltschaft nicht bestraft werden.« Prügelt ein Deutscher in Kamerun als Privatperson, kann er sich unter Umständen strafbar machen, wird allerdings von der Kolonialverwaltung nicht verfolgt; handelt er als Beamter, kann er sich gar nicht erst strafbar machen.
Am 13. März 1896 spricht Bebel noch einmal im Reichstag zum Leist-Wehlan-Skandal, zu den Ursachen und dem brutalen Ende des Dahomey-Aufstands und ruft dem Kolonialdirektor zu: »Wenn Ihre Kolonialpolitik solche Folgen gebiert, dann haben Sie alle Ursache, so rasch wie möglich mit derselben aufzuräumen, dem ganzen Afrika den Rücken zu kehren und Ihre Zivilisations- und Kulturarbeit hier in Deutschland zu vollenden.« Aber für den Kolonialdirektor sind die Akten des Skandals zu diesem Zeitpunkt längst geschlossen, vor allem ist sein vermeintlicher Urheber beseitigt: Der emphatische Kolonialbeamte Wilhelm Vallentin, der Whistleblower avant la lettre, hat den Dienst quittieren müssen.
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