Die Duala machen es aber den Deutschen auch wirklich nicht leicht. Begnügt man sich damit, ihnen ein wenig Deutsch beizubringen, gerade genug, um die Weisungen ihrer Herrschaften zu verstehen, klagen sie wie ein Schüler der Basler Missionsschule: »Um das Gebiet des Wissens, das uns die Weissen bringen, ziehen sie eine enge Grenze, denn sie wollen nicht, dass wir so viel wissen als sie.« Was den Duala also der Zwischenhandel, ist den Deutschen die Bildung – ein Monopol von unschätzbarem Wert. Und wie die Agenten der Hamburger Handelshäuser Woermann und Jantzen & Thormählen nicht genug bekommen können von Elfenbein und Kautschuk, und zwar möglichst viel möglichst günstig und möglichst auf direktem Weg, halten es die Duala mit der Bildung: Sie wollen – allerdings ohne Gewalt – davon möglichst viel möglichst direkt, also in Deutschland. Ein Unding in den Augen der Deutschen. Denn ein Duala, der als Alfred nach Deutschland zur Ausbildung geschickt wird, kommt als Herr Bell zurück, ist also als Kolonialbewohner verdorben. Reicht man ihnen den kleinen weißen Finger, greifen sie nach der ganzen Hand, ein unangenehmes Gefühl, das Reichsschullehrer Christaller so ausdrückt: »Da steht immer in der Zeitung: Die Erziehung des Negers zur Arbeit. Kommt aber einmal einer nach Deutschland und will Schreiner werden, gleich ist er ein Prinz, so nackt er vorher ging und so hungrig er war.«
Aber ein »Prinz« ist Manga Bell ohnehin, und Schreiner will er auch nicht werden, als ihn sein Vater – aus der Verbannung zurückgekehrt – 1891 nach Deutschland schickt. Er reist in Begleitung Tube Meetoms aus Akwa-Town, dessen Vater als Übersetzer für die Deutschen arbeitet, und des kaiserlichen Finanzrats Gustav Pahl. Ziel ist Pahls Heimatort Aalen in Württemberg. Echte »Negerbuben« sind bisher allenfalls bekannt durch die Völkerschauen des Zoo-Unternehmers Carl Hagenbeck, der fünf Jahre zuvor »Prinz Samson Dido of Didowown« – einen Schwager King Bells – zusammen mit zwei Ehefrauen, einem Sohn und vier Gefolgsleuten in Hamburg, Leipzig, Dresden und in Berlin-Charlottenburg im Vergnügungsetablissement Flora als »neue schwarze Landesleute« ausgestellt hat. Aber Hagenbeck gastierte nicht in Aalen. Also Blaskapelle, Menschenauflauf, kolossale Begeisterung, Vivat-Rufe, als die beiden Jungen im Aalener Bahnhof eintreffen und in der Kutsche verschwinden, die sie in die Friedhofstraße bringt zur Familie des Lehrers Gottlob Oesterle, bei der sie die nächsten Jahre verbringen werden. Und sie leben gar nicht schlecht. Natürlich erregen sie Aufsehen, wenn sie das Hirschbergbad besuchen. Aber es kann auch Vorzüge haben, als Exoten zu gelten und im Kreis der Mitschüler im Mittelpunkt zu stehen: Um ihre Freundschaft wird gebuhlt. Sie werden getauft und konfirmiert, sie besuchen die Volks- und später die Lateinschule, Tube Meetom lernt Koch in einem Offizierskasino, Manga Bell besucht das Gymnasium in Ulm. Er verlässt es mit der Mittleren Reife und unternimmt Reisen nach Frankreich und England. Es ist möglich, dass er in Bonn auch Vorlesungen zum Recht der Kolonialverwaltung hört und sich dabei mit dem späteren Bezirksamtmann von Duala, Hermann Röhm, anfreundet. Aber der Universitätsbesuch ist nicht gesichert, fest steht nur die Freundschaft mit Röhm, der Jahre später nichts unversucht lassen wird, um Manga Bell an den Galgen zu bringen.
Vorläufig aber kann sich Manga Bell nicht beklagen. Deutschland gefällt ihm, und er gefällt den Deutschen. Dabei müsste sein Bildungseifer ihn den deutschen Behörden eigentlich verdächtig machen. Ganz so, wie sich Julius von Soden in seinem Gouverneursgebäude in Duala mit Dante und Homer beschäftigt, sucht Manga Bell im Kreis der Lehrerfamilie Oesterle die Bekanntschaft mit Goethe, Lessing und Schiller. Doch vom Misstrauen der Behörden, wie es Alfred entgegenschlug, ist nichts zu spüren, im Gegenteil: Ohne zu murren zahlt die deutsche Kolonialregierung seine Ausbildungskosten. Und bis auf weiteres hat sie auch keinen Grund zur Klage. Von Manga Bell kommt keine aufrührerische Post nach Kamerun, und Manga Bells Vater erweist sich nach seiner Verbannung als gehorsamer Untertan, nicht zuletzt um den Erfolg des Sohnes in Deutschland nicht zu gefährden.
Gleichwohl wird die Geduld der Familie Bell zunehmend auf die Probe gestellt. Denn mit dem Zwischenhandel der Duala geht es bergab. Dabei scheitern bis Ende der 1880er Jahre noch fast alle Versuche der deutschen Handelshäuser, mit Expeditionen ins Hinterland vorzustoßen und sich dort mit Faktoreien festzusetzen. Zwar schaffen es sogenannte Forschungsreisende vereinzelt, Stationen zu errichten, Jaunde etwa, Forschungsstation und Basislager für den Elfenbeinhandel, angelegt 1889 von Richard Kund und Hans Tappenbeck, zwanzig Tagesmärsche von der Küste entfernt. Aber ohne Truppen erreichbar ist Jaunde für die Händler nicht. Denn auch die Bakoko, in deren Territorium die Deutschen vorgedrungen sind, verstehen beim Schutz ihres Zwischenhandelsmonopols keinen Spaß. Immer ungeduldiger verlangen daher die Handelshäuser und auch das deutsche Gouvernement »militärischen Schutz«. Und tatsächlich bewilligt der Reichstag in Berlin schließlich 1891 ein Budget für den Aufbau einer Polizeitruppe in Kamerun und beauftragt Hauptmann Karl Freiherr von Gravenreuth. Der Offizier, mit 33 Jahren durch zahlreiche Gemetzel bei der Niederwerfung von Aufständen in Deutsch-Ostafrika gestählt und mit dem röhrenden Kampfnamen Simba ja Mrima (»Löwe von Afrika«) versehen, misstraut den Einheimischen Kameruns und bedient sich günstig am Hof des Königs von Dahomey, heute Benin: Er kauft 370 Sklaven, à 320 Mark für jeden Mann, à 280 Mark für jede Frau, und lässt sie einen sogenannten Arbeitsvertrag unterschreiben, in dem sie sich verpflichten, in Kamerun jede Arbeit zu verrichten, »wie es der Arbeitgeber für passend und gut befinden wird«. Der Vertrag läuft über fünf Jahre, Verpflegung wird gestellt, der Lohn jedoch mit ihrem Kaufpreis verrechnet, und auch nach dem Auslaufen des Kontrakts dürfen sie Kamerun nicht verlassen. Die Chance, vertragsuntreu zu werden, haben nur wenige von ihnen – drei Monate nach ihrer Ankunft ist ein Drittel an Pocken oder Unterernährung gestorben. Bald darauf kommt Gravenreuth selbst auf einer seiner »Strafexpeditionen« ums Leben, zu denen er die kräftigsten Überlebenden als Träger und Söldner versammelt hatte, so auch beim Feldzug gegen die Bakwiri am 5. November 1891 in Buea. Ein bezaubernder Flecken am Kamerunberg – Mongo ma Loba (»Berg der Götter«) –, dem höchsten Berg Westafrikas, milde Temperaturen, kein Vergleich mit der schwülheißen Luft Dualas, schon der frühere stellvertretende Gouverneur Puttkamer hatte ein Auge auf Buea geworfen. Das ist nun kein Grund für einen Überfall, den Vorwand liefert das »recht rohe und dreiste Verhalten« der hier lebenden Bakwiri, so dass Gravenreuth seine in Deutsch-Ostafrika bewährte Strategie versucht und das Maxim-Maschinengewehr in Stellung bringen lässt, um die Bakwiri kollektiv zu massakrieren. Doch das Geschütz hat Ladehemmung, der Soldat am Gewehr wird schwer verwundet, und Hauptmann von Gravenreuth, den »Löwen von Afrika«, trifft der tödliche Giftpfeil des Bakwiri-Kriegers Mondinde Mw Ekeke.
1892 wird Eugen von Zimmerer neuer Gouverneur von Kamerun, Heinrich Leist sein Stellvertreter, Ernst Wehlan Chef der Polizeitruppe. Kaum im Amt, liegt Zimmerer die erste schriftliche, in englischer Sprache abgefasste Beschwerde der Duala seit Unterzeichnung der Schutzverträge auf dem Tisch. Die Duala beklagen sich über die immer aggressiveren Versuche der deutschen Kaufleute, ihr Zwischenhandelsmonopol zu zerschlagen, über die unwürdige Behandlung der Duala-Oberen durch die deutsche Kolonialverwaltung, über die exzessiven Prügelstrafen und darüber, dass Leist die Duala mit »Vieh« und »Schweine« anzureden pflegt. Zimmerer, noch vor wenigen Jahren Landgerichtsrat in München, kennt den Schutzvertrag, weiß von den täglich verhängten Prügelstrafen und ist mit den Bezeichnungen, die Leist für die Duala findet, bestens vertraut. Der Beschwerdekatalog umfasst zwölf Punkte. Alle zwölf Punkte weist Zimmerer zurück und schickt Assessor Wehlan auf Strafexpedition.
Ernst Wehlan ist dafür der richtige Mann. Die Grausamkeit, mit der er auf seinen Feldzügen gegen die Bakoko oder die Mabea vorgeht, ist in der Kolonie bis dahin ohne Beispiel; der Terror, den er in den folgenden Monaten an den Ufern der Flüsse Sanaga und Kampo verbreitet, um deutschen Händlern einen konkurrenzlosen Markt zu erschließen, ist selbst für Sadisten nur schwer zu ertragen. Aus Wehlans Bericht über seinen Überfall auf Toko-Dorf am 6. Oktober 1892: »Es wurde total zerstört, kein Haus blieb stehen, sämtliche Bananen, Planten, Zuckerrohr, Yams, Koko, Kassada und sonstige Nährpflanzen wurden vernichtet, die meisten Kokospalmen niedergehauen.« Aus Wehlans Gefechtsbericht vom 30. November 1892: »Viele Hundert Bakokos wurden aus ihren provisorischen Unterschlupfen im Busche verjagt, zahlreiche Gegner nach kurzer Gegenwehr niedergeschossen,