Akio hatte in den letzten Tagen keinen dieser Späher entdeckt. Aber das musste nichts heißen. Diese Kerle waren inzwischen so geschickt und gerissen, dass man manchmal erst merkte, dass man beobachtet wurde, wenn die Bluträuber schon hinter einem standen und einen mitrissen.
Akio näherte sich seinem Haus. Schwarze Hengste standen unruhig auf der Straße und schnaubten. Bluthunde trabten gefährlich bellend zwischen ihnen auf und ab und warteten auf neue Befehle. Wie bei den letzten Malen, als Bluträuber im Dorf waren, um ihn und Adelia mitzunehmen. Bisher war es immer so gelaufen, dass Akio sich mit Adelia im hinteren Bereich der Schmiede in einem extra dafür gebauten Versteck eingesperrt hatte, während der Vater mit Schwert, Axt und roher Gewalt auf die Räuber einschlug. Die Kämpfe dauerten unterschiedlich lang und der Vater trug nach jedem Kampf einige gefährliche Wunden und Hundebisse mehr an seinem Körper. Aber bisher hatten sich die Räuber anschließend immer ohne ihre Beute davongemacht.
Heute schien es anders abgelaufen zu sein. Auf der Straße war kein kämpfender Schmied zu sehen. Die Männer kamen aus verschiedenen Richtungen zusammengelaufen und sprangen auf die Pferde. Erst als sie ihre Reittiere mit festen Tritten zum Aufbruch antrieben, bemerkte Akio auf einem der Pferde ein in Decken gehülltes Bündel Mensch. Ein Schrecken durchfuhr seine Glieder: Das musste Adelia sein. Oder war es der Junge aus der Nachbarschaft? Am liebsten hätte Akio laut aufgeschrien, die Räuberbande wütend von ihren Pferden gezogen, sie verprügelt und seine Schwester zurück ins Haus getragen. Aber das tat er nicht. Er blieb im Schatten eines der Nachbarhäuser stehen und schaute ängstlich auf das, was da vor seiner eigenen Haustüre vor sich ging. Akio trug keine Waffe bei sich. Die Männer auf den Pferden hingegen waren mit Dolchen, Säbeln und Schwertern bis an die Zähne bewaffnet. Akio war allein, die Männer waren mehr als zehn. Außerdem hatte Akio nie gelernt zu kämpfen. Er besaß zwar ein Schwert, aber das stand irgendwo in der Schmiede herum und war nie wirklich benutzt worden. Dazu war er längst nicht so stark wie sein Vater. Und schließlich: Akio durfte sich auf keinen Fall so offen zeigen. Denn wenn die Räuber Adelia gefunden hatten, waren sie selbstverständlich auch auf der Suche nach Akio. Sie würden ihn ohne Mühe überwältigen und ebenso mitnehmen. Akio fühlte sich hilflos und elend.
Staub wirbelte auf. Die Räuber donnerten davon. Als sie weit genug weg waren, rannte Akio zum Haus seiner Eltern. Er zog seinen Kopf ein, um durch die niedrige Haustür ins Innere zu gelangen. Dann brauchte er eine Weile, bis sich seine Augen an das schwache Licht in dem dunklen Wohnraum gewöhnt hatten. Trotzdem erkannte er schnell, dass die Räuber hier wirklich gründlich gesucht hatten. Tische und Stühle waren umgestoßen, Geschirr zerschlagen, der Fußboden lag voller Scherben. Pollum kam aus Akios Ärmel herausgekrochen und flitzte über den schmutzigen Boden, um auch hier nach leckeren Würmern oder Käfern zu suchen.
Adelias Bett hinter dem Ofen in der Mitte der Stube war grob durchwühlt worden, die Bettdecke aufgeschlitzt, das Kissen achtlos in eine Ecke geworfen. Es war leer. Einzig ihre Stoffpuppe lag auf dem Bett, als wäre sie die einzige Überlebende nach einer furchtbaren Schlacht. Akio griff nach der Stoffpuppe und drückte sie an sich. Er selbst hatte sie vor einem Jahr für seine Schwester hergestellt. Er hatte sich Stoff beim Leinweber im Nachbardorf besorgt und über mehrere Wochen mit viel Mühe und unter Anleitung seiner Mutter Arme, Beine, einen Körper und einen Kopf zusammengenäht. Er hatte ein Gesicht auf den glatten Kopf gestickt und echte Haare aus dem Schweif seines Pferdes oben angenäht und zusammengeflochten. Zum Schluss hatte er sogar noch ein Kleid für die Puppe geschneidert. Adelia hatte vor Freude geweint, als Akio ihr die Puppe überreichte. Sie hatte ihr den Namen Jasmin gegeben. Seitdem trug sie die Puppe stets mit sich herum, spielte mit ihr »Mutter und Kind«, fütterte sie und brachte sie abends liebevoll ins Bett. Tja. Und dort im Bett lag sie jetzt immer noch, während Adelia gerade irgendwo weit weg Todesängste ausstand. Akio hielt sich Jasmin dicht ans Gesicht, schloss die Augen und roch an dem Stoff der kleinen Puppe. Er roch nach Adelia. Nach ihrem goldreinen Herzen, nach ihrer liebevollen Art, nach ihrem Lachen. Akio merkte, wie Tränen in seine Augen schossen.
Als er die Augen wieder öffnete und sich weiter in dem Wohnraum umschaute, sah er die Beine seines Vaters, die unter dem Schutt aus Tischen und Stühlen herausschauten. Der Vater stöhnte.
»Vater, was ist los?« Akio legte Jasmin zurück aufs Bett, setzte sich auf die Knie und krabbelte zu ihm unter die Bank. »Was ist passiert? Warum hast du nicht gekämpft?«
»Ich habe gekämpft«, brachte der Vater mühsam hervor. Erst jetzt sah Akio, dass sein Gesicht voller Blut war. »Ich habe gekämpft, so gut ich konnte. Aber sie waren zu viele. Und ihre Hunde …« Er zeigte auf seine Beine. Die Hose war aufgerissen. Klaffende Wunden hatten dreckige Blutspuren hinterlassen.
»Ich habe alles gegeben«, schluchzte er, »aber ich habe versagt. Ich hätte noch mehr kämpfen müssen! Ich hätte Adelia schützen müssen!«
Akio neigte sich zum Vater und legte ihm seine Hand auf die Schulter. »Beruhige dich. Du hast alles gegeben. Ich bin stolz auf dich!«
Auf einem Hocker neben dem Ofen saß die Mutter, hielt ihr Gesicht hinter den Händen vergraben und schluchzte leise: »Sie haben sie mitgenommen! Sie haben unser geliebtes Kind mitgenommen!«
Akio richtete sich wieder auf und fühlte sich machtlos. Seinen Vater so niedergeschlagen zu sehen – das war ein Bild, das er nicht kannte und das er auch nicht hinnehmen wollte. »Jemand muss sie zurückholen!«, rief er laut und aufgeregt. »Das ist doch wohl klar!«
»Aber wer?«, weinte die Mutter in ihre Hände hinein. »Sie sind zu stark!«
»Wir sind auch stark! Vater ist stark! Vater war immer stark! Die Hundebisse machen ihm nichts aus!« Akio wandte sich dem stöhnenden Mann auf dem Boden zu. »Nicht wahr, Vater?«
»Meine Wunden sind zu viele«, kam die Stimme des Vaters unter den umgestoßenen Möbeln hervor. »Meine Beine tragen mich kaum noch. Und die Kraft, die ich einmal hatte, ist schon lange von mir gewichen. Das siehst du doch.«
»Du hast immer noch genug Kraft!«, tönte Akio laut. »Außerdem bin ich auch noch da! Ich komme mit dir!« Akio setzte sich auf seine Knie und rief noch lauter in Richtung Vater: »Ich helfe dir! Wir gehen zusammen!«
»Du kannst nicht gehen«, krächzte der Vater, »das weißt du doch.«
»Ich werde meine Schwester retten, das weiß ich!« Akios Stimme sollte fest und entschlossen klingen, aber sie war voller Angst und Hilflosigkeit.
»Du bist ein Goldblüter«, pflichtete die Mutter bei und ließ ihre Hände in den Schoß sinken. Akio konnte ihre verweinten Augen sehen. »Die Späher werden dein goldenes Blut aufspüren. Sie werden dich gefangen nehmen. Sie werden dich wie Adelia dem Moloch vorwerfen.« Sie schüttelte den Kopf und schloss ihre Augen. »Es hat keinen Zweck.«
Keinen Zweck? Akio fühlte sich elend. Wie konnten seine Eltern sich so ihrer Mutlosigkeit ergeben? Man musste doch etwas tun! Man konnte immer etwas tun! Vater hatte sich bisher nie unterkriegen lassen! Warum jetzt? War er wirklich mit seiner Kraft am Ende? Nein. Akio wollte sich nicht von seiner Traurigkeit und Hilflosigkeit überwältigen lassen. Er erhob sich und merkte dabei, wie sich eine gehörige Portion Wut in ihm ausbreitete: »Das werden wir ja noch sehen,