Gefangen in Abadonien. Harry Voß. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Harry Voß
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Книги для детей: прочее
Год издания: 0
isbn: 9783955683108
Скачать книгу
Rechenschaft ziehen. Zumindest nicht die Helden und Bösewichte seiner Geschichte.

      Ein Grinsen machte sich auf Akios Gesicht breit. Wenigstens hier auf dem Papier konnte er beeinflussen und lenken, dass das Gute über das Böse siegte. Ganz anders als in der Welt, in der er und seine Familie lebten.

      Akio verbrachte den sonnigen Nachmittag auf einem großen, warmen Stein außerhalb des Dorfes, während Pollum, sein kleiner, geschuppter salamanderartiger Dracolepidus eifrig über den Stein und den Erdboden darunter hin und her kletterte, um nach Insekten und Blutwürmern zu suchen, die er verschlingen konnte. Die Arbeiten im Stall und in der Schmiede seines Vaters waren heute schnell erledigt gewesen. Die paar verbleibenden Stunden bis zum Sonnenuntergang wollte Akio hier draußen verbringen. Weg von den Menschen, die oft misstrauisch, launisch und eigensinnig waren. Außerdem hatte er hier in der Einsamkeit die seltene Gelegenheit, wenigstens für kurze Zeit seine drückende, enge Lederhaut auszuziehen. Die maßgeschneiderte zweite Haut, die seinen kompletten Oberkörper bis kurz vor die Handfläche und seine Beine vom Knöchel bis zum Oberschenkel bedeckte, sollte verhindern, dass ihm jemand in die Haut stach und sein wertvolles Blut stahl. Akios Blut war schon in seiner Kindheit vom Dorfpriester als außergewöhnlich hochwertig eingestuft worden. »Golden« nannten es die Priester, obwohl es natürlich nicht wirklich aus Gold bestand. Aber es war wertvoll genug und damit gewinnbringend für Bluträuber, die es in Abadonien in großer Zahl gab. Darum trug Akio diese zweite Haut wie einen Ganzkörperanzug unter seinem Hemd und unter der Hose, auch wenn sie furchtbar drückte. Hier draußen, weit weg von Dieben, Räubern und anderen Menschen, hatte er sein Hemd und seine Lederhaut ausgezogen und genoss mit geschlossenen Augen, wie die Sonne Brust und Rücken wärmte. Dabei konnte er in aller Ruhe nachdenken, träumen und Geschichten erfinden. Aus Gedanken Worte formulieren, aus Worten Welten erschaffen, aus seinen eigenen Welten Kraft und Hoffnung schöpfen. Hoffnung darauf, dass alles irgendwann auch in dieser Welt besser sein könnte. Ohne Neid, Missgunst, Angst oder Streit.

      Akio atmete einmal tief aus, öffnete die Augen und blinzelte in die Ferne. Die Landschaft in Abadonien bestand zum größten Teil aus trockenem Fels und Sand. Rotbraune Erde, wohin man schaute. Gras oder Blumen kannte Akio nur vom Dorfpriester. Der brachte manchmal bestimmte Blumen oder Pflanzen mit, wenn er von weiten Reisen in abgelegenen Bergen zurückkam. Um Berge zu erreichen, musste man sich allerdings von Akios Dorf aus auf einen mehrtägigen Weg machen. Wenn Akio von hier aus in die Ferne sah, konnte er viele Kilometer weit schauen, bis der sandige Boden zu einer verschwommenen Linie unter dem blauen Himmel wurde.

      Eine Staubwolke am Horizont erregte seine Aufmerksamkeit. Er sah Staub aus Sand, der durch eine Gruppe galoppierender Pferde aufgewirbelt wurde. Schwarze, gefährliche Hunde rannten laut bellend neben ihnen her. Akio kannte diese Erscheinung und ahnte, dass das nichts Gutes zu bedeuten hatte. Die schwarzen Pferde, die dunklen Reiter, die blutgierigen Hunde – alles klare Zeichen: Bluträuber waren im Anmarsch.

      Lautlos glitt Akio von seinem Stein herunter, griff nach der Lederhaut und ging in Deckung. Während er Haut und Hemd anzog, beobachtete er die Horde der dunklen Reiter auf ihrem direkten Weg in sein Dorf: Eisendorf.

      »Pollum, komm her«, flüsterte er und streckte seinem Tier den Arm entgegen. Sofort sprang Pollum auf den Arm und verschwand unter dem weiten Ärmel seines Herrchens. Akio steckte Papier und Stift in seinen Gürtel.

      Was die Reiter vorhatten, war klar. Sie wollten plündern, morden und vor allem Menschen gefangen nehmen für den Moloch. Menschen mit wertvollem, goldenem Blut. Im selben Augenblick wurde ihm klar, dass nicht nur er, sondern erst recht seine kleine Schwester Adelia mal wieder in großer Gefahr war.

      »Alexander, hast du aufgepasst?«

      Herr Neumann, der Lateinlehrer, stand an der Tafel und sah streng in die letzte Reihe der Klasse.

      »Klar«, antwortete Alexander schnell. »Pronomen. Der Relativsatz wird mit einem Pronomen übersetzt.«

      »Nein, so kann man das nicht sagen.« Der Lehrer seufzte und begann, sein Thema über Relativpronomen noch einmal aufzurollen. Offensichtlich hatte er durch Alexanders Antwort immerhin den Eindruck bekommen, er hätte aufgepasst. Das war schon mal gut. Alexander schaute auf die Uhr. Noch zehn Minuten, dann war er von Latein erlöst. Danach Mathe. Auch nicht viel besser.

      Seine Mutter versuchte ihm fast täglich einzureden, er müsste sich mehr für die Schule interessieren, immerhin sei er schon 15 Jahre alt und er lernte ja fürs Leben und er brauchte nach der neunten Klasse ein gutes Abschlusszeugnis und so weiter. Aber diese Einstellung fand in seinem Kopf einfach keinen Platz. Konnte man sich denn zwingen, sich für etwas zu interessieren, das absolut überflüssig war? Wann um alles in der Welt brauchte er in seinem weiteren Leben Relativpronomen, binomische Formeln oder Zellbiologie?

      Alexander stützte den Kopf auf seine Hand und kritzelte in seinem aufgeschlagenen Block herum. Er musste an seine Schwester Hanna denken. Die würde sich niemals mit solchen Themen herumschlagen müssen. Sie war jetzt sechs Jahre alt, aber an Lesen und Schreiben war bei ihr nicht zu denken. Von ihrer Entwicklung her war sie auf dem Stand einer Dreijährigen, befanden die Ärzte. Für Buchstaben und Zahlen hatte sie jetzt zumindest noch keinen Sinn. Und mit Relativpronomen würde sie sich garantiert auch mit 15 Jahren niemals beschäftigen müssen. Und? War Hanna unglücklich? Nein, war sie nicht. Im Gegenteil. Alexander hatte in seinem Leben noch nie einen Menschen gesehen, der so viel Glück, Freude und Zufriedenheit ausstrahlte. Sobald Alexander ins Zimmer kam und sich neben sie setzte, ging ein Leuchten von ihr aus, das heller war als jede Lampe. Immer wenn sie ihn mit ihrer stürmischen Art umarmte, floss spürbare Wärme von ihrem Körper in seinen. Gemeine Gedanken, Neid, Misstrauen – dafür war in ihrem Herzen kein Platz. Ihr Inneres war bis zum Rand gefüllt mit Liebe, Wärme und Lebensfreude. Jeder, der schlechte Laune hatte, musste sich nur fünf Minuten lang mit ihr beschäftigen und die schlechte Laune war wie weggeblasen. Und das ganz ohne Latein und all den Blödsinn, den einem die Lehrer als so lebenswichtig verkaufen wollten.

      »Hast du es jetzt verstanden, Alexander?«, schloss Herr Neumann seinen kleinen Vortrag ab.

      »Klar«, antwortete Alexander wie vorhin. »Relativpronomen sind sehr wichtig fürs Leben.«

      »Da hast du allerdings recht«, gab der Lehrer zurück und war mit dieser Antwort zufrieden. Alexander grinste und schaute wieder auf die Kritzeleien in seinem Collegeblock.

      »Achtung, Alex!«, hörte er plötzlich eine laute Stimme vom anderen Ende der Klasse. »Fang auf! Hier kommt ein Feuer-Pronomen!«

      Und noch bevor Alex überhaupt reagieren konnte, hatte Marcel ein dickes Stück Kreide mit voller Wucht in seine Richtung geworfen. Das Kreidestück zischte direkt auf Alex’ Gesicht zu. Alex war wie gelähmt. Mehr als die Augen aufzureißen, gelang ihm in dieser Schrecksekunde nicht.

      Doch plötzlich änderte sich etwas.

      Das Kreidestück bremste kurz vor Alex’ Gesicht ab, flog im Zeitlupentempo einen Bogen um seinen Kopf herum, zischte hinter ihm in der vorherigen Geschwindigkeit weiter und knallte in irgendeiner Ecke auf den Boden.

      Nicht jeder in der Klasse hatte das mitbekommen. Und auch Alex hätte nachträglich geglaubt, er hätte sich das nur eingebildet, wenn nicht Marcel in der anderen Ecke des Raumes mit weit aufgerissenem Mund dagestanden hätte. Auch die wenigen anderen, die den Flug der Kreide zuerst amüsiert verfolgt hatten, hatten jetzt vor Erstaunen die Kinnlade nach unten geklappt.

      Alex schaute kurz zu dem Kreidestück, das reglos auf dem Boden lag. Dann zurück zu Marcel, der regungslos vor seinem Stuhl stand. »Wie hast du das gemacht?«, hauchte Marcel mit belegter Stimme.

      Alex hatte keine Ahnung. Er hatte nichts gemacht.

      Akio sprang hinter seinem Felsen hervor und rannte Richtung Dorfeingang. Immer versteckt hinter einzelnen Häusern, Holzfässern oder Pferdewagen. Hatte er recht mit seinem Verdacht? Das ließe sich ja schnell herausfinden. Wenn die Männer nicht nur Essensvorräte, Schmuck oder Gold an sich rissen, dann wusste er, was ihr Ziel war. Sie waren darauf aus,