Das war sie nicht, doch sie griff seine letzten Worte auf. Es gab schließlich noch ein Problem, eines, das sie täglich vor Augen hatten.
»Okay, Werner, hoffen wir mal, dass unser Sohn weiß, was er tut. Das können wir von uns nicht gerade behaupten.«
Was war denn heute mit Inge los? Er blickte sie fragend an, weil sie nichts sagte, erkundigte er sich.
»Nun, Werner, da gibt es noch immer dieses leidige Thema Adoption. Wann und wie sagen wir es unserem Kind? Ich werde das Gefühl nicht los, dass sich die Zeichen immer mehr verdichten und dass es uns um die Ohren fliegen wird, wenn wir nicht endlich handeln und es ihr sagen, dass sie adoptiert ist.«
Also, Werner Auerbach konnte sich des Eindrucks nicht erwehren, dass seine Inge heute dazu neigte, alles zu dramatisieren. Erst das mit Hannes, und nun die Adoption. Klar war es an der Zeit, es Bambi zu sagen. Aber was sollte ihnen denn um die Ohren fliegen? Und welche Zeichen? Die Adoption war ein Familiengeheimnis, und es wussten nur er, Inge und Jörg, Ricky und Hannes davon.
Sie wollten zwar alle, dass Bambi endlich die Wahrheit erfuhr, doch niemand würde vorpreschen, um es Bambi zu sagen. Dafür liebten sie ihren kleinen Sonnenschein alle viel zu sehr, wollten, dass es Bambi gut ging. Niemand würde etwas tun, was Bambi verletzen könnte.
Er gab ja zu, dass er ein wenig feige war, dass er lieber ein wissenschaftliches Problem löste, als dieses Gespräch zu führen.
Aber Inge hatte insofern recht, dass es belastend war, und sie sprachen eigentlich viel zu oft darüber. So etwas verursachte Angst, und Angst war kein guter Begleiter.
»Inge, wir werden es Bambi am Wochenende sagen, in aller Ruhe, und ganz ungestört. Und wenn sie das ein wenig verdaut hat, ziehen wir den Rest der Familie hinzu. Es macht keinen Sinn, den Kopf noch länger in den Sand zu stecken.«
Inge atmete erleichtert auf, und es fiel ihr ein Stein vom Herzen.
Sie hatten es immer vor sich hergeschoben, vage darüber geredet.
Jetzt stand ein Termin im Raum, ein kurzfristiger Termin, auf den sie sich jetzt einstellen konnten.
»Das ist eine gute Idee, Werner. Die Kinder werden es auch begrüßen, die drängen ja schon lange. Das Wochenende ist gut.«
Sie erhob sich, wollte ihn wieder allein lassen, damit er sich wieder seiner Arbeit zuwenden konnte.
Eines beschäftigte sie allerdings noch, und das sprach sie auch aus.
»Werner, es macht mir schon ein wenig Sorge. Bambi ist ein sehr emotionales Mädchen. Was glaubst du, wie sie es aufnehmen wird? Sie fühlt sich schließlich als hundertprozentige Auerbach.«
»Sie ist eine Auerbach, und sie ist das Kind unseres Herzens. Es liegt an uns, es ihr so zu vermitteln, dass sie es hinnimmt, dass diese Adaption nicht mehr ist als etwas …«
Er, der kluge Professor, kam nicht weiter. Er war ratlos, und das gab er auch zu.
»Inge, wir müssen es auf uns zukommen lassen. Vor Wahlen weiß niemand, wie sie ausgehen werden, und doch finden sie statt. Bei Wettkämpfen kann der hochfavorisierte Teilnehmer einen schlechten Tag haben, und es siegt ein Außenseiter. Inge, manches kann man auch zerreden. Der Zeitpunkt steht fest, zum ersten Male, und fest steht auch, dass wir Bambi über alles lieben und nur ihr Bestes wollen. Das allein ist es, was zählt.«
Sie nickte.
Werner hatte recht.
Doch als sie sein Arbeitszimmer verließ, fühlte sie sich nicht wohl und auch in keiner Weise erleichtert.
Sie starrte auf die bunte Ansichtskarte.
Galapagosinseln …
Für sie würden es erst Sehnsuchtsorte sein, wenn von Hannes die nächste Karte kam, nachdem er die Galapagosinseln wieder verlassen hatte.
Und Bambi?
Sie musste vorher unbedingt in die Kirche gehen, Kerzen anzünden und darum bitten, dass dieses Gespräch so verlaufen würde, dass ihre geliebte Kleine keinen Schaden nahm.
Sie ging an Jonny vorbei, der ziemlich teilnahmslos auf seinem Kissen lag. Selbst als sie umkehrte, um ihn zu streicheln, zeigte er kaum eine Reaktion.
Es sah nicht gut aus, und es würde schon sehr bald das eintreten, was unausweichlich war und was Bambi das Herz brechen würde.
Sie wusste nicht, ob sie sich wünschen sollte, dass es vor oder nach diesem entscheidenden Gespräch geschah.
Zwei tiefgreifende Erlebnisse waren für ein so hochsensibles Mädchen wie Bambi nicht zu verkraften. Das war ein einschneidender Zwischenfall zu viel.
Jonny war nicht irgendein Hund. Er war Bambis geliebter Gefährte, der sie durch ihre ganze Kindheit begleitet hatte, sie noch immer begleitete.
Inge konnte sich noch sehr gut daran erinnern, wie Fabian ihr den Welpen geschenkt hatte, und wie Bambi außer sich vor Freude und Glück gewesen war.
Alles hatte seine Zeit.
Jedes Leben war endlich.
Inge erhob sich, ging in die Küche, begann zu arbeiten. Sie musste sich unbedingt ablenken. Heute war sie sentimental, sehr sogar, und weil sie allein war, weil niemand sie beobachten konnte, vergoss sie doch ein paar Tränchen.
*
Rosmarie Rückert war doch ein wenig erstaunt gewesen, von ihrem Ehemann zu erfahren, dass er zu einem dringenden Auswärtstermin musste.
Es war nicht so, dass er sie in seine Geschäftsabläufe einweihte, doch über Termine, die nicht in seinem Büro stattfanden, sprach er schon. In erster Linie um seine Wichtigkeit hervorzuheben.
Heinz Rückert hatte es längst geschafft, er war ein sehr guter Notar, und man kam nicht nur zu ihm, um den Kauf einer Wohnung beurkunden zu lassen, sondern es ging um Konzernverkäufe oder ähnliches, was natürlich eine dicke Gebühr brachte, die den Wohlstand der Rückerts vermehrte.
Also, zu solchen Terminen ging er an andere Orte, ansonsten ließ er die Leute kommen, was ja auch üblich war.
Er hatte nichts gesagt, er war halt auch nicht mehr der Jüngste, ihr Heinz. Aber es konnte auch durchaus sein, dass er etwas erwähnt und sie nicht richtig zugehört hatte. Das passierte auch. Interessant war das, was ihr Heinz machte, für sie nicht unbedingt, was er verdiente, interessierte sie schon, denn das bescherte ihr ein schönes Leben.
Und genau das wollte sie genießen.
Wenn Heinz in seiner Kanzlei arbeitete, liebte er es, mittags nach Hause zu kommen, wobei sich das in der letzten Zeit auch geändert hatte.
Nun, wie auch immer. Heute würde er nicht kommen, und deswegen würde sie in die Stadt fahren, den ganzen Tag dort verweilen und ganz gehörig ihre goldene Kreditkarte glühen lassen.
Sie hatte eine Einladung des ersten Modehauses am Platz bekommen, nicht von ungefähr, denn dort war sie eine der besten Kundinnen. Die Sachen waren zwar teuer, doch genau ihr Stil, und schließlich konnte sie es sich auch leisten. Wozu hatte sie einen gut verdienenden Ehemann?
Zum Glück war ihr Heinz nicht kleinlich. Sie hatten viele gesellschaftliche Verpflichtungen, und da liebte ihr Mann es, wenn die Frau an seiner Seite ein bewundertes Highlight war.
Rosmarie warf einen letzten Blick in den Spiegel, sie konnte mit ihrem Aussehen zufrieden sein. Nicht nur, dass Kleider Leute machten, wie man so schön sagte. Sie war sehr diszipliniert, pflegte und cremte sich, und sie achtete streng auf ihre Linie und verkniff sich so manches.
Immerhin … Das Resultat konnte sich sehen lassen. Sie stäubte sich etwas von ihrem sündhaft teuren Parfüm hinter die Ohren, dann verließ sie die luxuriöse Villa.
Ja, da lebte sie nun.
Es war herrlich gewesen, sie zu planen, einzurichten. Das hatte viel mehr Spaß gemacht, als jetzt darin zu wohnen. Doch das würde sie niemals wirklich