Otto Brunner (1898–1982), seit 1940 Direktor des (Österreichischen) Instituts für Geschichtsforschung in Wien und Vorsitzender der Südostdeutschen Forschungsgemeinschaft, einer Institution der nationalsozialistischen »Südostforschung«, plädierte noch 1944 für den Primat des Volkes (im völkisch-nationalen Sinn) und der »Volksgeschichte« gegenüber dem Staat und der Staatsgeschichte. Die Geschichte des österreichischen Deutschtums werde künftig im wesentlichen als »Landes- und Volksgeschichte« zu schreiben sein. Neben der Geschichte der Deutschen in den Ländern der Habsburgermonarchie betrachtete Brunner die Geschichte der Habsburger und ihrer dynastischen Großmachtpolitik als das zweite große Thema der österreichischen und gleichzeitig der gesamtdeutschen und der europäischen Geschichte und war davon überzeugt, dass »[d]er einheitliche Rahmen einer österreichischen Geschichte als Geschichte des ›Staates‹ Österreich […] längst sinnlos geworden« sei. »Die wichtigsten uns heute [1944!] beschäftigenden Fragen finden hier keine Antwort mehr. Sie können […] ernsthaft nur aus einer gesamtdeutschen und damit europäischen Sicht in Angriff genommen werden.«
Erst nach 1945 versöhnten sich die meisten Österreicher und die österreichischen Historiker und Historikerinnen mit der Existenz Österreichs als Kleinstaat. Zweimal, so Gerald Stourzh in seiner Studie Vom Reich zur Republik, hat »die Geschichte« die Österreicher in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts »von einem Reich in eine Republik transportiert«: vom Reich der Habsburgermonarchie in die Erste Republik und vom Großdeutschen Reich in die Zweite Republik. »Der endgültige Übergang vom Bewußtsein, die Österreicher seien ›Großstaatsmenschen‹, wie [Bundeskanzler] Ignaz Seipel es einmal während der Ersten Republik ausdrückte, zur Bejahung der kleinstaatlichen Republik ist zäh gewesen. Gelungen ist der Übergang nach 1918 noch nicht – erst nach 1945.«
Alphons Lhotsky (1903–1968), seit 1946 Professor für Österreichische Geschichte an der Universität Wien, verfocht 1949 in einem Vortrag auf dem ersten österreichischen Archivtag die Ansicht, dass die österreichischen Erblande um 1500 eine Einheit gebildet hätten, die mit relativ geringen Veränderungen die folgenden Jahrhunderte überdauert habe. »Spinnen wir diesen Gedanken weiter aus, so erscheinen uns die vierhundert Jahre Großmacht im Verein mit Böhmen und Ungarn von 1526 bis 1918 als ein Zwischenspiel, an dessen Ende neuerdings jenes natürliche Ergebnis des Spätmittelalters, im großen und ganzen räumlich ähnlich, zutage trat und damit seine in sich selbst zurücklaufende echte Wesenhaftigkeit bewiesen hat.« Noch kurz vor seinem Tod gab sich Lhotsky 1966 im programmatischen Vorwort zu seiner Geschichte Österreichs seit der Mitte des 13. Jahrhunderts überzeugt: »Eine ›Geschichte Österreichs‹ darf heute nur noch demjenigen Territorienkomplex gelten, der sich im Laufe des Mittelalters durch spontane Konvergenz der Landschaften in weitgehender Identität mit der politischen Gestaltungskraft dreier Dynastien zu einer lebenskräftigen Einheit entwickelte, die über zahllose Krisen hinweg ihre Daseinsberechtigung bewiesen hat. Die Republik Österreich der Gegenwart ist nichts anderes als das nur wenig modifizierte ›Haus Österreich‹ der Zeit Kaiser Friedrichs III.«
Lhotskys Interpretation der österreichischen Geschichte zwischen 1526 und 1918 als Zwischenspiel, um nicht zu sagen: als historischer Irrweg, und seine Reduktion der österreichischen Geschichte auf das Staatsgebiet der Republik nach 1918 bzw. 1945 ist von manchen als provinzielles Wunschdenken kritisiert worden, zunächst von »großösterreichischen« bzw. (vormals) »gesamtdeutschen« Zeitgenossen wie Theodor Mayer (1883–1972), Hugo Hantsch (1895–1972) und Adam Wandruszka (1914–1997), zuletzt von Gerald Stourzh. Wandruszka polemisierte 1955 gegen das »krampfhafte« Suchen »nach Parallelen und Vorläufern zur Gegenwart […] in einem angeblichen ›spätmittelalterlichen Territorialstaat‹«. Stourzh gab 1991 unter anderem zu bedenken: »Wenn man die Republik Österreich ›in ihren heutigen Grenzen‹ als ›nichts anderes als das nur wenig modifizierte Haus Österreich der Zeit Kaiser Friedrichs III.‹ bezeichnet, bagatellisiert man die […] Änderungen [das Innviertel, Salzburg und das Burgenland sind erst später dazugekommen, Krain, Südtirol, die Untersteiermark, die Besitzungen an der Adria, in Schwaben und Vorderösterreich sind weggekommen; Th. W.] über Gebühr.«
Außerdem plädierte Lhotsky – ähnlich wie wenige Jahre zuvor der ihm politisch fernstehende Otto Brunner – für eine Trennung der Geschichte der Dynastie von jener der Länder. Dazu bemerkte Stourzh mit Recht: »Dennoch gibt es – mit flexiblem Umfang – eine österreichische Geschichte, die über den Umfang der gegenwärtigen Republik Österreich hinausreicht und mehr ist als ›Herrscher- oder Herrschaftsgeschichte‹. Die Schicksale und die Sozialisation zu vieler Menschen in zu vielen Lebensbereichen – nicht nur im Bereich der öffentlichen Verwaltung oder des Militärwesens – sind von der Zugehörigkeit zum Institutionengefüge der Monarchia Austriaca geprägt worden, als daß man mit einer Trennung in Dynastiegeschichte einerseits und Landes- oder Ländergeschichte andererseits das Auslangen finden könnte. Man denke etwa an die enormen Wanderungsbewegungen des 19. Jahrhunderts aus den ›Ländern der böhmischen Krone‹ in das ›Erzherzogtum unter der Enns‹, man denke an die jüdischen Westwärts- und Südwärtswanderungen innerhalb der Monarchie, und man merkt sogleich, daß hier historische Phänomene vorliegen, die weder als ›Dynastiegeschichte‹, noch als ›Landes- oder Ländergeschichte‹, noch auch als ›Nationalgeschichte‹ zu verstehen sind.«
Ernst Hanisch schließlich plädierte 1988 und neuerlich 1991 dafür, bei einer Darstellung und Analyse der Geschichte Österreichs im 20. Jahrhundert nicht mit dem Bruch von 1918, sondern bereits um die Mitte der 1890er Jahre zu beginnen. »Was aber heißt Österreich vor dem Ersten Weltkrieg? Im öffentlichen Sprachgebrauch war zumeist die westliche Reichshälfte der Habsburgermonarchie gemeint. Der Begriff ist zu weit für meine Intentionen, für mein Programm einer Gesellschaftsgeschichte. Am ehesten trifft grob der ebenfalls, vor allem in der Statistik, verwendete Terminus ›Alpenländer‹ zu; kurz: die spätere Republik Österreich.« Stourzh gab dieser Auffassung gegenüber zu bedenken, »daß eine solche Einschränkung des Begriffs Österreich schon für das letzte Jahrzehnt des 19. Jahrhunderts und dann natürlich auch für die ersten 18 Jahre des 20. Jahrhunderts gerade vom Standpunkt einer gesellschaftshistorischen Methode problematisch ist. Die vor allem in den letzten Jahrzehnten Altösterreichs in ihrer Bedeutung überhaupt nicht zu überschätzende demographische, soziale und wirtschaftliche Verbindung der böhmischen Länder und der Donauländer (weniger der Alpenländer) erinnern daran, daß hier eine zu frühe Verengung angelegt ist.« Hanisch antwortete 1994 in der Einleitung zu seiner – wie angekündigt Mitte der 1890er Jahre einsetzenden – Gesellschaftsgeschichte Österreichs im 20. Jahrhundert (Der lange Schatten des Staates), diese Kritik sei zwar »theoretisch richtig, aber praktisch wenig ergiebig. Alle Längsschnitte würden an Aussagekraft verlieren, wenn sich das Korpus der Vergleichsdaten einmal auf das Gebiet der westlichen Reichshälfte, das andere Mal auf das Gebiet der Republik bezöge. Es ist allerdings notwendig, die Perspektive offenzuhalten, das Blickfeld nicht vorschnell auf das Gebiet der späteren Republik einzuschränken, die Verflechtungen mit zu berücksichtigen.«
Was aber, wenn man nicht, wie Ernst Hanisch, eine Geschichte Österreichs im 20. Jahrhundert schreiben will, sondern, wie die Autorin und die Autoren des vorliegendes Bandes, eine Überblicksdarstellung der Geschichte Österreichs vom Frühmittelalter bis ins 21. Jahrhundert? Ein gangbarer Weg scheint die methodische Unterscheidung und Kombination mehrerer unterschiedlich großer Räume zu sein, zu denen bzw. an denen »Österreich« zu verschiedenen Zeiten variierende Beziehungen und Anteile hatte. Arno Strohmeyer hat 2008 den Versuch unternommen, »Österreichische Geschichte der Neuzeit« als »multiperspektivische Raumgeschichte« zu begreifen. Er geht von einer »Pluralität der Räume« der österreichischen Geschichte aus. Der Schwerpunkt seiner Überlegungen liegt »auf politischen Räumen, d. h. auf Räumen, die sich durch politische Praxis konstituierten und politische Ordnung produzierten«. Um einen Raum als Gegenstand und Bestandteil österreichischer Geschichte zu verstehen, müsse »nicht unbedingt ein genetischer Bezug aufgrund von Staatsbildungsprozessen oder der Entwicklung des Nationalbewusstseins bestehen, ausschlaggebend ist vielmehr die geographische Überschneidung. Eine so verstandene österreichische Raumgeschichte konstituiert sich somit aus der Geschichte der Räume, die das Gebiet des heutigen Österreich oder einzelne seiner Teile beinhalten oder beinhaltet haben und der Geschichte, die in diesen