Nach einer halben Stunde ging die Tür auf. Opa und Enkel traten auf den Flur.
»Und?«, wollte Walter sofort wissen, »was hat sie gesagt?«
»Dass ich so dünn bin, wie eine zerquetschte Spaghetti!«, grinste Tommy.
»Und was ist mit dir?«, wandte er sich an seinen Vater. »Wie ist dein Zustand?«
Opa hatte seinen Rollator im Zimmer gelassen und sich bei seinem Enkel eingehängt. Sein Hemd war verkehrt zugeknöpft und ein Hemdzipfel im Hosenstall eingeklemmt.
»Ich bin für mein Alter geradezu ein Ausbund an Gesundheit!«
»Das hat sie wirklich gesagt«, bestätigte Tommy, als er in die skeptischen Gesichter seiner Eltern blickte.
»Hat sie auch deinen Geisteszustand überprüft?«, fragte Beate spitz.
Opa hielt ihr grinsend ein Blatt Papier hin. »Lies, o du meine misstrauische Schwiegertochter!«
Beate nahm das Blatt zögernd in die Hand und las.
Befund: Allseits gut orientiert, gut kontaktfähig, Gedanken in Form und Inhalt geordnet, psychomotorisch ausgeglichen, Merk- und Konzentrationsfähigkeit erhalten. Stimmung: normal schwingungsfähig, keine produktive oder psychosomatische Symptomatik …
Beate ließ das Blatt sinken. »Von wem reden die da? Das bist doch nicht du! Diesen Befund hast du doch jemand anderes gestohlen!«
Ehe Opa seinen Triumph noch weiter auskosten durfte, öffnete sich die Tür zur Ordination und Walter und Beate wurden von der Frau Doktor freundlich hereingebeten. Sie war eine hübsche junge Frau mit blonden Haaren und einem schneeweißen Kittel.
»Bitte nehmen Sie Platz. Wie geht es Ihnen?«
»Gut«, antworteten Walter und Beate aus einem Munde.
»Haben Sie irgendwelche körperliche Beschwerden oder besondere Wünsche?«
»Beschwerden haben wir keine gröberen, nur …« Walter wollte das Essen ansprechen, aber Beate kam ihm zuvor. »Körperlich fehlt uns eigentlich nichts. Wir suchen nur Erholung und eine gesündere Lebensweise zum Alltag.«
Frau Doktor lächelte. »Da sind Sie bei uns goldrichtig.«
Beate räusperte sich. »Eine Frage, Frau Doktor. Sie haben doch vorhin meinen Schwiegervater untersucht …«
»Lutz Schneider? Ein sehr lebenskluger und liebenswerter Mann.«
Beate sah sie ein wenig skeptisch an und räusperte sich. »Ich habe seinen Befund gelesen, also den psychischen. Ist der wirklich von Ihnen?«
Frau Doktor lächelte. »Ich darf über andere Patienten keine Auskunft geben – das gilt auch bei einem Verwandtschaftsverhältnis. Aber ich kann Ihnen versichern, der alte Herr ist besser drauf, als Sie vielleicht vermuten.«
»D–das sind ja überraschend gute Nachrichten«, stotterte Beate.
»Nun zu Ihnen!«
Beate und Walter erschraken.
Frau Doktor bat sie, ihre Oberkörper freizumachen, hörte ihre Lungen ab, maß ihren Blutdruck, ihre Größe, beorderte sie auf die Waage und stellte noch einige allgemeine Fragen. Dann nahm sie wieder hinter ihrem Schreibtisch Platz.
»Sie sind einen Meter achtundsiebzig groß und wiegen dreiundneunzig Kilo«, knöpfte sie sich Walter als Erstes vor. »Das ist zu viel.«
Walter widersprach: »Ich bin eins-achtzig!«
»Dann sind Sie geschrumpft.«
»Lächerlich, mit noch nicht mal fünfzig Jahren schrumpft man nicht. Wie groß ist übrigens meine Frau?«
Die Ärztin konsultierte ihre Aufzeichnungen. »Die ist eins-neunundsechzig.«
Beate grinste. »Siehst du, ich bin um einen ganzen Zentimeter gewachsen.«
»Das sind doch deine hochtoupierten Haare!«
»Hast du Halluzinationen? Ich toupiere meine Haare seit über zwanzig Jahren nicht mehr!«
»Rauchen Sie?«, unterbrach die Ärztin.
»Ich habe vor zwanzig Jahren aufgehört«, antwortete Walter stolz.
»Gut so.«
»Wieso? Hören Sie etwas, das Sie nicht hören sollten?«
»Es ist soweit alles in Ordnung, nur …«
»Mein Vater raucht wie ein Kamin!«, fiel Walter ein. »Meinen Sie, dass ich mir vom Passivrauchen schon einen Lungenkrebs geholt habe?«
»So schlimm ist es nicht …«
Walter bekam es mit der Angst zu tun. »Warum erwähnen Sie es dann?«
»Das leise Pfeifen kommt wahrscheinlich von Ihrem Übergewicht. Daher kommt sicher auch der Bluthochdruck. Oder haben Sie sich heute aufgeregt?«
»Ich? Nein, überhaupt nicht. Ich bin die Gelassenheit in Person.«
Die Ärztin lächelte. »Ich empfehle Ihnen früh ins Bett zu gehen und so richtig auszuspannen.«
»Das habe ich vor«, erwiderte Walter.
»Nur gegen das Übergewicht muss etwas getan werden.«
»Und was ist mit meiner Frau?«
»Was hat Ihre Frau mit Ihrem Übergewicht zu tun? Mit Ihrer Frau bin ich sehr zufrieden. Die paar Kilo kriegen wir innerhalb dieser drei Wochen locker in den Griff.«
Beate grinste hämisch zu ihrem Mann rüber.
»Ich reduziere Ihre Mahlzeiten auf tausend Kalorien am Tag, Herr Schneider. Geben Sie diese Karte heute Abend beim Servicepersonal ab. Und Ihnen, Frau Schneider, empfehle ich zwölfhundert Kalorien und verordne Ihnen viel Bewegung. Das wird Sie beide auf Vordermann bringen, besonders Sie, Herr Schneider. Sie wiegen mindestens zehn Kilo zu viel. Aber das bekommen wir schon hin. Vielleicht nicht in drei Wochen, aber wenn Sie sich zu Hause weiter disziplinieren, werden Sie am Ende des Sommers Ihr Idealgewicht erreicht haben.«
»Tausend Kalorien?« Walter erinnerte sich mit Schaudern an die Hungermahlzeit am Mittagstisch, aber die Ärztin versicherte ihm: »Nach diesen drei Wochen werden Sie mir dankbar sein!«
»Darauf würde ich nicht wetten«, brummte Walter und fragte sich, wieso er mehr als tausend Euro die Woche hinblätterte, wenn er dafür nichts zu essen bekam. Wenn er es im Kopf schnell durchrechnete, kostete ihn eine Kalorie 14,5 Cent. Unerhört!
Beate hingegen versprach: »Ich werde mich sicher daran halten, Frau Doktor!«
»Und nicht schummeln!« Die Ärztin drohte ihnen lächelnd mit dem Zeigefinger. »Wenn wir einen unserer Kassenpatienten nach dem Abendessen beim Backhendlwirt erwischen, wird er gnadenlos heimgeschickt.«
»Das sind ja Methoden wie bei der Armee!«, grummelte Walter.
»Da Sie Privatgäste sind, beruht Ihre Diät auf Freiwilligkeit. Ich würde Ihnen aber dringend dazu raten, besonders Ihnen, Herr Schneider.«
»Sie haben es auf mich abgesehen!«, murmelte er beleidigt. Zwar hatte er tatsächlich einige Kilo zu viel auf den Rippen, aber so schlimm, wie die Ärztin tat, war es auch wieder nicht. Beate ihrerseits war bereit, zu hundert Prozent zu kooperieren, und freute sich auf die neue Figur, die der Aufenthalt versprach.
»Nehmen Sie sich ein Beispiel an Ihrer Frau«, empfahl ihm die Ärztin. »Zu zweit ist es auch viel einfacher. Sie können sich gegenseitig motivieren.«
»Hast du gehört, Walter?«, frohlockte Beate.
»Bin ja nicht taub.«
Die Ärztin schmunzelte. »Männer sind von