Walter und Stefan stürzten sich kopfüber ins Becken. Beate beobachtete mit Argusaugen, ob auch beide am Beckenrand anschlugen und keiner von ihnen schummelte. Zuerst schien es, als würde Stefan die Nase vorn haben, doch je länger das Schwimmen dauerte, desto mehr setzte sich ihr Gatte durch. Beate wusste nicht, wem sie den Sieg mehr gönnte, ihrem eigenen Mann oder dem Fremdling, dem es gelungen war, den jungen Tag schon mit einem Lachen zu beginnen. Während sie die beiden Wettkämpfer im Wasser beobachtete, bemächtigte sich ihrer ein Gefühl der Ausgelassenheit, das sie seit vielen Jahren nicht mehr hatte erleben dürfen. Auch Walter erkannte sie nicht wieder. Dass er sich auf dieses Spiel überhaupt eingelassen hatte, grenzte an ein Wunder.
Nach neunzig Sekunden schlug Walter als Erster an. Stefan blieb mit drei Sekunden im Rückstand.
»Alle Achtung!«, sagte Stefan noch ganz außer Atem. »Wenn ich einen Hut hätte, würde ich ihn jetzt vor Ihnen ziehen.«
Walter war bleich im Gesicht und so fertig, dass er kein Wort hervorbrachte. In diesen neunzig Sekunden war er buchstäblich über sich selbst hinausgewachsen und musste sich erst wieder fangen.
Stefan konnte schon wieder grinsen und schlug ihm anerkennend auf die Schulter. »Mann o Mann, das hätte ich Ihnen nicht zugetraut.«
Walter fragte sich, was das wieder heißen sollte. So unsportlich wie er vielleicht aussah, war er nämlich bei weitem nicht. Aber er hatte immer noch zu wenig Luft, um zu antworten, so grinste er nur und freute sich über Beates strahlendes Gesicht. Sie sprang zu ihm ins Becken und umarmte ihn lachend. Unter Wasser umklammerte sie ihn mit ihren Beinen, und trotz der mangelnden Atemluft wurde es Walter wuschig in der Badehose.
Margot Kitzler
Walter freute sich wie ein Schneekönig, dass er diesen Angeber geschlagen hatte, und erzählte es sofort am Frühstückstisch weiter. Beate fand das zwar kindisch, aber selbst Stefan schien ihm diese Freude zu gönnen, was Stefan bei Beate einen weiteren Pluspunkt einbrachte. Leise stieg jedoch in ihr der Verdacht auf, dass Stefan ihren Mann hatte gewinnen lassen, aber an so was wollte sie gar nicht denken.
Frisch geduscht und gut gelaunt waren sie Punkt acht Uhr in den Speisesaal gekommen, wo Frau Professor Rosenblatt und Frau Margot Kitzler sich schon wieder ein Wortgefecht lieferten. Diesmal ging es darum, ob man seinen Namen amtlich ändern durfte. Immerhin waren beide rücksichtsvoll genug, ihren Disput nicht weiter auszutragen, als sich Walter und Beate mit Opa und Tommy im Gefolge am Tisch niederließen. Nachdem Walter sich von den beiden Frauen gebührend zu seinem Sieg hatte gratulieren lassen und Stefan Kamiscynski sich vom Nachbartisch aus an den Gratulationen beteiligt hatte, begab sich Familie Schneider zum Frühstücksbuffet.
Vorher hatte Beate ihrem Sohn die Leviten gelesen, weil er allein joggen gewesen war, und ließ sich hoch und heilig schwören, dass er den Wald nicht ohne Begleitung betreten würde, egal wie heiß es tagsüber werden sollte.
Opa hatte geschlafen wie ein Baby und am Morgen nicht mehr gewusst, wo er war. Er war so lange im Hotel herumgegeistert, bis ihn ein Zimmermädchen in der Wäschekammer fand und bei der Rezeption abgab. Daraufhin fertigte Beate ihrem Schwiegervater ein Schildchen mit seiner Zimmernummer an und hängte es ihm kurzerhand um den Hals. Tommy fand das mega-peinlich, Walter völlig übertrieben, aber Beate fühlte sich besser. Und Opa hatte gegen die Fürsorglichkeit seiner sonst so spröden Schwiegertochter auch nichts einzuwenden.
Am Frühstücksbuffet gab es alles, nur nicht das, was Walter gewöhnt war. Es gab Frischkäse in allen Varianten, Vollkornbrötchen, frisches Gemüse, Obst und Fruchtsäfte, Müsli, Kefir und Buchweizensuppe. Und um ihm den Appetit komplett zu verderben, war jedes einzelne Produkt mit der Anzahl der Kalorien gekennzeichnet.
So lernten sie, dass ein einziges mickriges Vollkornbrötchen bereits den Organismus mit hundertzwanzig Kalorien belastete, und ein Esslöffel fader Frischkäse vierzig Kalorien hatte. Wenn er jetzt noch einen Fruchtsaft dazu trank, war seine Ration von zweihundert Frühstückskalorien bereits überschritten. Nach dem anstrengenden Morgensport und der gestrigen Askese krachte Walter vor Hunger der Magen. Drei Eier mit gebratenem Speck und mindestens ein Würstchen dazu hätte er locker geschafft. Als sich seine Finger um ein zweites Hundertzwanzig-Kalorien-Brötchen krallen wollten, wurde es ihm von einer fürsorglichen Frauenhand sanft von der Brotzange genommen und in den Korb zurückbefördert.
»Das ist eines zu viel.« Beate lächelte nachsichtig über Walters Schulter hinweg. Seit ihr Mann einen sportlichen Sieg davongetragen hatte, lächelte sie häufiger.
»Ich habe aber Hunger!«, beschwerte er sich. »Ich könnte auf der Stelle drei Wurstsemmeln verputzen und würde mich über jede einzelne der fünfzehnhundert Kalorien freuen.«
»Leider nein. In drei Wochen wirst du mir dankbar sein.«
»Jetzt klingst du schon wie die Kurärztin!«
Am Tisch zeigten sich Frau Professor Rosenblatt und Margot Kitzler bei den Frühstückskalorien ebenfalls sehr zurückhaltend. Linda und Wilhelm Busch waren in den Ort zum Frühstücken gefahren, erzählte Margot Kitzler, die sie in ihren Wagen hatte steigen sehen. Opa und Tommy hauten rein, was das Zeug hielt, was Walter ausgesprochen rücksichtslos fand. Beate trank Pfefferminztee und Opa Feigenkaffee.
»Brr! Feigenkaffee!«, schauderte Walter. »Entweder ein richtiger Kaffee oder gar keiner.«
»Nach dem Krieg wären wir froh gewesen, wenn wir Feigenkaffee gehabt hätten«, erinnerte Opa seinen Sohn an die schlechten Zeiten.
»Wir haben aber nicht Krieg«, widersprach dieser. »Wir leben seit über siebzig Jahren im Frieden und ich will einen richtigen Kaffee!«
Margot Kitzler empfahl Walter, den Kellner danach zu fragen. Sie wusste, dass es Bohnenkaffee gab, nur musste man ihn eigens bestellen. »Ich selbst trinke ja nur verdünnten Orangensaft zum Frühstück«, stellte sie klar.
»Schön für Sie, aber ich halte ohne Kaffee bis zum Mittagessen nicht durch.«
Walter winkte den Kellner herbei und fragte ihn nach Bohnenkaffee. Irgendwie hatte er jetzt ein Runzeln der Kellnerstirn erwartet oder einen maßregelnden Blick aus Kellneraugen und überlegte sich schon ein gutes Argument, das zwingend für den Konsum von Bohnenkaffee sprach. Aber zu seiner Überraschung brachte ihm der Kellner ganz ohne vorwurfsvolle Miene das Gewünschte, noch dazu ein ganzes Kännchen davon. Walters Laune verbesserte sich auf der Stelle. Er kaute an seinem Brötchen dreimal so lange herum, als er es zu Hause getan hätte, um den Essensakt so lange wie möglich auszudehnen, aber irgendwann war auch der letzte Krümel weg und er begann erneut, aufs Buffet zu schielen. Beates Finger hielten ihn eisern unterm Tisch fest, während sie sich mit den beiden Damen unterhielt und von Frau Kitzler erfuhr, dass diese eine Namensänderung in Erwägung zog.
Beate konnte sich gut in sie hineinversetzen. Mit so einem Namen geboren zu sein, war wahrlich kein Zuckerschlecken. Schon allein deswegen hätte sie an ihrer Stelle längst geheiratet. Sie malte sich aus, wie man die arme Frau Kitzler schon in der Schule gehänselt hatte, und es dann in der Pubertät ganz schlimm wurde. Später, im Erwachsenenalter, war es sicher auch nicht immer leicht gewesen, wenngleich sich erwachsene Menschen aus Höflichkeit nicht über sie lustig machten, und wenn doch, dann nur hinter ihrem Rücken.
»Ich finde meinen Namen abscheulich!«, klagte Frau Kitzler. »Aber ich habe in Erfahrung gebracht, dass es ein Amt gibt, wo man eine Namensänderung beantragen kann, auch wenn Frau Professor Rosenblatt das Gegenteil behauptet.«
»So ein Amt gibt es auch nicht!«, beharrte die Angesprochene.
Walter jedoch konnte bestätigen, dass Namensänderungen möglich waren. Und zwar, wenn der Name wesentliche Schwierigkeiten in der Schreibweise oder bei der Aussprache verursachte oder anstößig klang.
»Wie würden Sie denn gern heißen?«, erkundigte er sich neugierig.
Margot Kitzler lächelte, dann verriet sie ihr Geheimnis: »Jennifer!«
Sie wurde angestarrt.