Sagten die ihnen wirklich etwas, fragte sich der stille Beobachter. Er sah nur Striche und Linien und Kreise in wilden Farbgebungen. Nun, er war eben ein Banause, befand er im Weitergehen.
Außerdem war er für die Gelegenheit unpassend gekleidet, lässig-sportlich, wie er es nicht anders gewohnt war. Die meisten hier zeigten sich makellos in edlem Designer-Outfit. Mit leiser Selbstironie überlegte Gerhard, daß er jetzt zwar ein Mann mit Geld war, es aber noch einiges brauchen würde, um zu dieser Gesellschaftsschicht zu gehören.
Was tat er eigentlich hier? Die, nach der er Ausschau hielt, schien nicht anwesend zu sein. Und wieso wollte er sie sehen, wie war er überhaupt auf die Idee gekommen?
Dankend lehnte er ab, als eines der beiden Mädchen, die gefüllte Tabletts herumtrugen, ihm von den Gläsern Sekt oder Fruchtsaft anbot. Als sein Blick weiterschweifte, tat sein Herz plötzlich einen rascheren Schlag, denn dort stand sie, Ariane von Korff.
Ja, sie war es noch, so wie er sie einst gekannt und angehimmelt hatte. Mädchenhaft schlank, in einem überaus schlichten schwarzen Kleid, mit einer weißen Blende am runden Ausschnitt, eine Perlenkette um den Hals. Nur das Haar fiel ihr nicht mehr lang über die Schultern, sie trug es hochgesteckt, so betonte es die feine Kopfform, das edle Profil.
Unauffällig näherte sich Gerhard. Sie unterhielt sich mit zwei Herren, aber war sie nicht verlegen, schien sie nicht nach Worten zu suchen? Da entdeckte er, daß die beiden Amerikaner waren und in einem Jargon sprachen, der dem Hochenglisch ziemlich fernlag. Sie verstand es nicht, sie konnte es nicht verstehen, und die redeten noch immer weiter.
Blitzschnell erfaßte Gerhard die Situation. »Kann ich helfen?« fragte er herbeitretend.
Seine Ohren waren an diese Aussprache gewöhnt, so fiel es ihm leicht, bei der Verständigung zu helfen. Sie wollten über die Maler einiges wissen, die hier ausgestellt hatten.
»Vielen Dank«, sagte Ariane Danegger, als die Amerikaner weitergegangen waren, »das war sehr freundlich von Ihnen. Ich wäre allein mit denen nicht klargekommen.«
Sie gab ihm ein höfliches kleines Lächeln und wandte sich ab.
Gerhard blieb wie angewurzelt stehen. Er hatte ihr nun ins Gesicht sehen können, und da war sie es doch nicht mehr. Feine Linien zeichneten sich allzufrüh darin ab, neben den Mundwinkeln, zwischen den Brauen, und diese Augen, so verhangen im Blick und ohne Glanz. Seltsam unlebendig wirkte dieses Frauenantlitz. Selbst wenn sie redete und lächelte, war es doch, als zöge sie nur eine Maske darüber. Eine leise Traurigkeit überkam Gerhard, als er so dieser Empfindung nachhing.
Geistesabwesend bewegte er sich weiter. Eine zierliche Dame mit silbergetöntem Haar und lebhaften Gesten stand gewissermaßen im Mittelpunkt. Gerhard vermutete, daß es die Inhaberin war. Jetzt bat sie die Herrschaften, sich in den vorderen Raum zu begeben, wo ein Stehpult neben einem Blumenarrangement stand. Es sollten wohl ein paar offizielle Worte gesprochen werden. Alles drängte nach vorn, nur Gerhard blieb, wo er war, sah sich auf einmal allein, in der Nähe der Treppe. Oben telefonierte jemand, er vernahm eine Frauenstimme.
Dann ging alles sehr schnell.
In Hast kam Arianne Danegger die steilen, unbequemen Stufen herabgeeilt, sie strauchelte, stürzte hin. Mit zwei, drei Schritten war Gerhard bei ihr, um ihr aufzuhelfen. Aber sie konnte nicht auftreten. Es war der linke Fuß, der heftig schmerzte und auch sogleich zusehends anschwoll.
Gerhard streifte ihr den Lackpumps davon ab. »Der Fuß muß geröntgt werden«, sagte er bestimmt. »Ich werde einen Krankenwagen rufen.«
»Bloß kein Aufsehen jetzt«, bat sie, aber sie mußte die Zähne zusammenbeißen, so weh tat es.
»Dann erlauben Sie mir, daß ich Sie ins Krankenhaus bringe. Ich bestelle ein Taxi. Oben ist ein Telefon, ja?«
Ariane Danegger nickte ergeben. »Er soll aber hier am Hinterausgang vorfahren. Und bringen Sie mir bitte meine Handtasche mit, sie liegt oben im Schreibtisch.«
Aufblickend gewahrte sie, daß dies derselbe Mann war, der vorhin bei den Amerikanern übersetzt hatte. Doch sie machte keine Bemerkung dazu. Es ärgerte sie zu sehr, daß ihr das jetzt passieren mußte. Hoffentlich war der Fuß nicht gebrochen.
Oben fand Gerhard Büros und Arbeitsräume vor, in Packpapier gehüllte oder noch ungerahmte Bilder lehnten an den Wänden. Das Taxi würde in wenigen Minuten hier sein. Er hatte seinen Wagen in New York gelassen, um sich hier einen neuen zu kaufen. Dazu war es noch nicht gekommen.
Ariane war leicht, er nahm sie mühelos auf die Arme und trug sie zum Taxi. Und bald darauf ins nächstgelegene Krankenhaus, wo er sie den Ärzten überließ. Dann wartete er…
»Sie haben gewartet«, sagte sie erstaunt, als sie nach etwa einer halben Stunde, auf den Arm eines Krankenpflegers gestützt, aus dem Behandlungszimmer kam. Der rechte Fuß trug einen festen Verband.
»Demnach ist er nicht gebrochen«, bemerkte Gerhard erleichtert, mit einem Blick darauf.
»Nein, es ist eine Bänderdehnung«, erklärte sie. »Ich wollte gerade zu Hause anrufen, daß man mich abholt.«
»Ich habe das Taxi warten lassen.«
»Aber…«
»Lassen Sie mich meine Samariterrolle nun auch noch zu Ende spielen«, bat Gerhard und bot ihr den Arm. Der Krankenpfleger zog sich zurück. Behutsam, damit sie den Fuß nicht belastete, geleitete Gerhard Ariane zum Wagen. Dort sorgte er dafür, daß sie gut saß. Sie nannte dem Chauffeur ihre Adresse: Platanenallee 8.
Er, Gerhard, hätte sie auch nennen können…
Schweigend fuhren sie dahin. Ariane war sehr blaß, sie hatte die Lippen zusammengepreßt. Der Fuß schmerzte.
Vor der Villa stieg Gerhard rasch aus und half ihr aus dem Wagen. Er brachte sie bis vor die Tür. »Ich wünsche baldige Besserung«, sagte er.
»Danke für Ihre Hilfsbereitschaft. Aber«, sie griff nach ihrer Handtasche, »Sie haben Auslagen gehabt«, fiel es ihr ein.
»Das ist nicht der Rede wert. Auf Wiedersehen.« Er wandte sich wieder dem Taxi zu, da sich in diesem Moment die Tür auftat und eine erschrockene Frauenstimme ausrief: »Kind, was ist denn mit dir passiert?!«
Es war Melanie von Korff, die ihre Tochter in Empfang nahm.
»Halb so wild, Mama«, beruhigte Ariane die Aufgeregte, »ich muß nur den Fuß gleich hochlegen.«
Als es geschehen war, erzählte sie von ihrem Pech.
»Man muß Tante Irene anrufen und ihr Bescheid sagen. Sie hat meine Abwesenheit vielleicht noch gar nicht bemerkt, denn der offizielle Teil sollte gerade beginnen, der Kulturreferent wurde erwartet. Es ist Hochbetrieb bei ihr. Es sind nicht nur geladene Gäste gekommen.«
»Und wer war dieser Mann, der dich nach Hause gebracht hat?«
Ariane zuckte die Achseln. »Keine Ahnung. Ein Besucher der Ausstellung, der zufällig in der Nähe war, als es passierte.«
*
Es war einige Tage später.
Die Familie Korff saß beim Abendessen, Vater, Mutter und Tochter. Das Mädchen Hilde servierte. Wie meistens, verlief die Mahlzeit ziemlich schweigsam. Der Hausherr sah müde aus, seine Züge waren schlaff. Er war ein hochgewachsener, hagerer Mann, leicht vornübergebeugt, als trüge er eine Last. Neben seinem Gedeck lagen zwei Pillen, die er jetzt mit ein paar Schluck Wasser hinunterspülte.
Als er das Glas zurücksetzte, sagte er: »Heute war ein junger Mann bei mir, der es in Amerika mit ein paar tausend Dollar innerhalb von vier, fünf Jahren zum mehrfachen Millionär gebracht hat.«
»Tüchtig, tüchtig«, warf seine Frau hin, und sie brach ein Stück Brot.
»Ja, das