Lange Zeit saß ich benommen da und wußte weder aus noch ein. Mein erster Impuls war natürlich, Hilfe herbeizuholen, aber dann wurde mir klar, daß ich mit größter Wahrscheinlichkeit des Mordes bezichtigt würde. Die Tatsache, daß er während eines Streites gestorben war, und die kläffende Wunde an seinem Hinterkopf würden mich aufs schwerste belasten. Außerdem kämen bei einer offiziellen Untersuchung zwangsläufig gewisse Einzelheiten in Zusammenhang mit dem Schatz ans Licht, die ich um jeden Preis geheimhalten wollte. Morstan hatte mir gesagt, daß keine Menschenseele wußte, wohin er gegangen war, und ich sah nicht ein, warum je eine Menschenseele davon erfahren sollte.
Ich brütete noch über der Sache, als ich aufblickte und meinen Diener Lal Chowdar in der Tür stehen sah. Er kam verstohlen herein und verriegelte die Tür hinter sich. »Sei ohne Furcht, Sahib«, sagte er. »Niemand braucht zu erfahren, daß du ihn umgebracht hast. Wir wollen ihn beiseite schaffen, und wer sollte uns dann auf die Schliche kommen?« – »Ich habe ihn nicht umgebracht«, erwiderte ich. Lal Chowdar schüttelte lächelnd den Kopf. »Ich habe alles gehört, Sahib« sagte er. »Ich habe euch streiten gehört, und ich habe den Schlag gehört. Aber meine Lippen sind versiegelt. Das ganze Haus liegt in tiefem Schlaf. Schaffen wir ihn gemeinsam fort.« Damit war die Sache entschieden. Wenn nicht einmal mein eigener Diener an meine Unschuld glaubte, wie konnte ich dann hoffen, ein Geschworenengericht von zwölf dummen Handwerkern zu überzeugen? In jener Nacht beseitigten Lal Chowdar und ich die Leiche, und schon nach wenigen Tagen waren alle Londoner Zeitungen voll von dem geheimnisvollen Verschwinden Captain Morstans. Aus dem, was ich euch erzählt habe, könnt ihr ersehen, daß ich mir in dieser Sache kaum etwas vorzuwerfen habe. Gefehlt habe ich darin, daß ich nicht nur die Leiche, sondern auch den Schatz verschwinden ließ und daß ich mich an Morstans Anteil klammerte wie an meinen eigenen. Es ist deshalb mein Wille, daß ihr Rückerstattung leistet. Neigt eure Ohren zu mir. Das Versteck des Schatzes ist ...‹
In diesem Augenblick ging eine schreckliche Veränderung in seinem Gesicht vor; seine Augen starrten wild, sein Kiefer sackte herab, und er schrie mit einer Stimme, die ich nie vergessen werde: ›Laßt ihn nicht rein! Um Gottes Willen, laßt ihn nicht rein!‹ Wir fuhren herum und schauten zu dem Fenster, auf dem sein starrer Blick lag. Ein Gesicht blickte aus der Dunkelheit zu uns herein. Wir sahen eine Nase, die sich weiß gegen das Glas preßte, Bart, Haare und wilde, grausame Augen, in denen der Ausdruck geballter Feindseligkeit lag. Mein Bruder und ich stürzten ans Fenster, aber der Mann war bereits verschwunden. Als wir zu meinem Vater zurückkehrten, war ihm der Kopf auf die Brust gesunken, und sein Herz hatte aufgehört zu schlagen.
Noch am selben Abend durchsuchten wir den Garten, fanden jedoch keine Spur von dem Eindringling außer einem Fußabdruck in einem Blumenbeet unter dem Fenster. Ohne diesen Anhaltspunkt hätten wir die wilde, grimmige Fratze wohl für eine Ausgeburt unserer Phantasie gehalten. Bald schon erhielten wir jedoch einen weiteren und handgreiflicheren Beweis dafür, daß um uns her dunkle Mächte am Werk waren. Am nächsten Morgen stand das Fenster zum Zimmer meines Vaters offen, all seine Schränke und Truhen waren durchwühlt, und auf seiner Brust war ein Fetzen Papier befestigt worden, auf den die Worte ›Das Zeichen der Vier‹ gekrakelt waren. Was diese Worte bedeuten und wer unser heimlicher Besucher gewesen sein mag, wissen wir bis heute nicht. Soweit wir feststellen konnten, war nichts, was meinem Vater gehörte, entwendet worden, obwohl das Unterste zuoberst gekehrt war. Natürlich brachten mein Bruder und ich diesen merkwürdigen Vorfall in Verbindung mit der Furcht, von der mein Vater zu seinen Lebzeiten besessen gewesen war; dennoch ist uns das Ganze zutiefst rätselhaft geblieben.«
Der kleine Mann unterbrach seine Geschichte, um die Huka wieder in Brand zu stecken, dann paffte er eine Zeitlang in Gedanken versunken vor sich hin. Wir alle hatten seiner außergewöhnlichen Erzählung gebannt gelauscht. Bei dem kurzen Bericht vom Tod ihres Vaters war Miss Morstan leichenblaß geworden, und ich hatte einen Moment lang gefürchtet, sie würde in Ohnmacht fallen. Sie hatte sich jedoch bald wieder gefangen, nachdem sie ein Glas Wasser getrunken hatte, das ich ihr stillschweigend aus einer venezianischen Karaffe auf dem Beistelltisch neben uns eingeschenkt hatte. Sherlock Holmes saß mit abwesendem Ausdruck in seinen Stuhl zurückgelehnt, seine Lider waren tief über die glitzernden Augen gesenkt. Als ich ihn so dasitzen sah, mußte ich unwillkürlich daran denken, wie bitterlich er sich erst heute noch über die Banalität des Lebens beklagt hatte. Hier jedenfalls fand sich ein Problem, das ihm ein Höchstmaß an Scharfsinn abverlangen würde. Mr. Thaddeus Sholto blickte uns der Reihe nach an, er war offensichtlich stolz auf den Eindruck, den seine Geschichte uns gemacht hatte, und fuhr dann zwischen Zügen aus seiner überdimensionierten Pfeife folgendermaßen fort:
»Wie Sie sich sicher vorstellen können, hatte der Schatz, von dem mein Vater gesprochen hatte, meinen Bruder und mich in große Aufregung versetzt. Während Wochen und Monaten gruben und buddelten wir an allen Ecken und Enden des Gartens danach, ohne ihn zu finden. Es war zum Verrücktwerden, daß mein Vater ausgerechnet in dem Augenblick gestorben war, als ihm der Ort des Versteckes auf der Zunge lag. An der Schönheit des Perlendiadems, das er herausgenommen hatte, konnten wir ermessen, was für Herrlichkeiten da entschwunden waren. Wegen eben dieses Diadems kam. es mehrmals zu kleineren Auseinandersetzungen zwischen meinem Bruder und mir. Die Perlen waren offensichtlich sehr wertvoll, und er war nicht gewillt, sich davon zu trennen, denn unter uns gesagt schlägt mein Bruder in dieser Beziehung meinem Vater nach. Er befürchtete auch, wenn wir das Diadem hergäben, würden wir ins Gerede und schließlich in Kalamitäten kommen. Ich brachte ihn aber wenigstens so weit, daß er mir erlaubte, nach Miss Morstans Adresse zu forschen und ihr in regelmäßigen Abständen eine einzelne Perle zu schicken, so daß sie zumindest nie Not leiden müßte.«
»Es war nett von Ihnen, daran zu denken«, sagte unsere Gefährtin ernst, »das war wirklich sehr gütig von Ihnen.«
Der kleine Mann machte eine wegwerfende Handbewegung.
»Wir waren Ihre Treuhänder«, sagte er, »so jedenfalls habe ich die Sache gesehen, wenn auch Bruder Bartholomew darin nicht ganz mit mir übereinstimmte. Wir selber haben Geld in Hülle und Fülle. Was brauche ich mehr? Zudem würde es von äußerst schlechtem Geschmack zeugen, eine junge Dame so schäbig zu behandeln. Le mauvais goût mène au crime;13 die Franzosen haben eine sehr elegante Art, solche Dinge zu formulieren. Jedenfalls entzweiten wir uns so sehr über dieser Angelegenheit, daß ich es für das beste hielt, mir eine eigene Wohnung nehmen; ich verließ also Pondicherry Lodge und nahm den alten Khitmutgar und Williams mit. Gestern nun habe ich erfahren, daß ein Ereignis von außerordentlicher Tragweite eingetreten ist: Der Schatz ist entdeckt worden. Ich setzte mich also unverzüglich mit Miss Morstan in Verbindung, und nun bleibt uns nichts anderes mehr zu tun, als nach Norwood hinauszufahren und unseren Anteil zu fordern. Gestern abend habe ich Bruder Bartholomew meine Ansichten auseinandergesetzt; er wird unseren Besuch also erwarten, wenn auch nicht gerade begrüßen.«
Mr. Thaddeus Sholto hatte geendet und saß zuckend auf seinem luxuriösen Sofa. Wir alle verharrten in Schweigen und sannen der plötzlichen Wendung nach, die dieser rätselhafte Fall genommen hatte. Holmes raffte sich als erster auf.
»Sie haben richtig gehandelt, Sir«, sagte er, »vom Anfang bis zum Ende. Vielleicht können wir uns erkenntlich zeigen, indem wir etwas Licht in jene Dinge bringen, die für Sie noch dunkel sind. Aber – wie Miss Morstan schon vorher bemerkt hat – die Zeit ist fortgeschritten, und wir sollten die Sache ohne Aufschub zu Ende führen.«
Unser neuer Bekannter rollte sorgsam den Schlauch seiner Wasserpfeife