Der Wind peitschte den Sand über das Pflaster der Promenade und verursachte auf seiner Gesichtshaut ein Gefühl von tausend Nadelstichen. Darüber hinaus erzeugte das Heulen des Sturms und das kräftige Rauschen der Wellen einen riesigen Lärm. Außer ihm war niemand unterwegs.
Nach vielleicht dreihundert Metern wurde ihm bewusst, dass sein Versuch, in der frischen Luft einen klaren Gedanken fassen zu können, gescheitert war.
Auf kürzestem Weg verließ er die Promenade und ging hinunter in den kleinen Ort Borkum. Hier zwischen den Häusern war es erträglicher. Der Ort wirkte wie ausgestorben. Nur selten begegnete ihm ein menschliches Wesen. Und wenn, konnte er kaum erkennen, ob es sich um eine Frau oder um einen Mann handelte. Alle waren wie er dick verpackt und lediglich Augen, Nase und Mund waren unter den Kapuzen und Mützen auszumachen. Auch in den Lokalen, an denen er vorüberkam, befanden sich nur wenige Gäste, die nur etwas speisten oder tranken. Er überlegte kurz, ob er irgendwo einkehren und etwas essen sollte. Doch dann verwarf er diesen Gedanken wieder. So richtig hungrig war er nicht. Vielleicht würde er sich später zu Hause eine Scheibe Brot und ein Spiegelei oder sonst etwas, was sich noch im Kühlschrank befand, zubereiten.
Ziellos wanderte er durch die Straßen.
Und jetzt waren sie wieder da. Die Gedanken an das Telefonat, an Berti und an die tote Moni.
Er stellte sich Moni vor, wie sie da lag. Nackt, die blonden Haare, die zerzaust über ihre Schulter hingen, ihre helle, makellose Haut mit den Würgemalen am Hals und die blauen Augen, die starr gegen die Zimmerdecke blickten.
Nein, das wollte er sich nicht weiter ausmalen. Er wollte sie so in Erinnerung behalten, wie er sie als lebendige Frau gekannt hatte.
Dann dachte er: Wie mag dieser Berti heute aussehen? Damals war er ein Frauentyp gewesen. Schwarze Haare, braune Augen und eine durchtrainierte Figur. Und heute? Vielleicht hatte er Haarausfall und bereits eine ausgedehnte Tonsur und hatte vom Bierkonsum einen ausgeprägten Bauch.
Wenn Berti Moni nicht erwürgt hatte, wer konnte es denn sonst getan haben? Konnte jemand, während Berti zum Chinesen unterwegs war, in die Wohnung eingedrungen sein? Wie sollte er in die Wohnung gelangt sein? Berti hatte doch, wie er sagte, die Wohnungstür zugezogen, als er gegangen war. Kannte Moni womöglich ihren Mörder, und hatte sie ihm selbst die Tür geöffnet?
Oder stimmte das alles nicht, was Berti ihm gesagt hatte? Wollte er ihn veralbern, einen Scherz mit ihm machen? Schlechter Scherz, dachte er und verzog automatisch sein Gesicht.
War das tatsächlich Berti, sein Freund aus Jugendjahren? An den Klang seiner Stimme konnte er sich nicht mehr erinnern und sagen „ich bin Berti Dumm“, das kann jeder. Aber auch wiederum nur derjenige, der Berti und mich kennt und weiß, dass wir Freunde waren, überlegte er weiter.
Fragen über Fragen, auf die er keine Antwort fand und auch in der restlichen Zeit dieser Nacht nicht finden würde.
Er könnte morgen nach Hause fahren und versuchen, die Angelegenheit aufzuklären, dachte er, als er auf die Hauptstraße einbog und in Richtung seiner Ferienwohnung ging.
Morgen war Sonntag und die erste Fähre nach Eemshaven ging um 13:30 Uhr. Nach Emden übersetzen konnte er nicht, da er in Eemshaven sein Auto abgestellt hatte.
Noch eine Woche hatte er geplant, auf Borkum zu bleiben. Die Mordermittlungen in und um Troisdorf in den letzten Jahren, sowie die Sache mit seiner Frau Isabelle, hatten ihn viel Kraft gekostet. Er hatte das Gefühl, einmal richtig ausspannen zu müssen. Allein, ohne viele Menschen um sich herum. Nur er, das Meer, der Strand und die frische Luft. Borkum im März fand er, sei dafür der richtige Ort. Und der war es auch – bis heute.
Als er den Schlüssel zur Wohnungstür umdrehte, stand sein Entschluss fest. Morgen früh würde er, nachdem er gefrühstückt hatte, seine Koffer packen und die Wohnungsschlüssel zurückbringen. Dann mit der Borkumer Kleinbahn zum Hafen fahren und die Fähre nach Eemshaven nehmen und nach Hause fahren.
Er freute sich schon auf das verdutzte Gesicht von Frank Eisenstein, wenn er am Abend bei ihm auftauchen und ihm von dem Telefonat berichten würde. Wer weiß, vielleicht hatte Berti doch noch die Polizei informiert und seine Kolleginnen und Kollegen ermittelten bereits in dem Fall Monika Stark.
Bis dahin würde er versuchen, nicht mehr an Berti und Moni zu denken – zumindest wollte er jeglichen Denkansatz im Keim ersticken.
Als er sich müde ins Bett legte, fiel er sofort in einen tiefen aber nicht traumlosen Schlaf: Kräftige Männerhände legten sich um den Hals einer blonden Frau. Sie versuchte zu schreien, aber kein Ton kam aus ihrem Mund. Verzweifelt strampelte sie mit den Beinen und dann sah er das Gesicht des Mannes – es war sein Gesicht. Er erwachte und saß augenblicklich aufrecht im Bett. Trotz intensiver Bemühungen, gelang es ihm nicht mehr, dauerhaften Schlaf zu finden und er war froh, als der Morgen hereinbrach und er aufstand.
3
Ronni ging zum Fenster des Schlafzimmers, zog die Gardine beiseite und schaute hinaus. Der Wind hatte sich gelegt und abgesehen von einigen wenigen weißen Wolken schien es ein schöner Tag zu werden.
Bis zur Abfahrt der Fähre um 13:30 Uhr hatte er genug Zeit. Nach dem Duschen zog er sich warme Kleidung an und spazierte wie jeden Morgen zum Bäcker.
Die zu dieser Jahreszeit tief stehende Sonne schien ihm ins Gesicht und eine frische Brise wehte ihm um die Nase. Es schien, als wolle sich das Wetter bei ihm in unvergessliche Erinnerung bringen. Im Ort herrschte sonntägliche Ruhe. Kein Auto, kein Motorrad, nur hin und wieder begegnete ihm ein Fahrradfahrer. Es war schon richtig, dass er sich diese Insel als Urlaubsort ausgesucht hatte, auf der er einen wunderbaren Abstand zum Stress seiner täglichen Arbeit fand.
Noch einmal schaute er sich bewusst die Landschaft, die Häuser und den Leuchtturm, der sich majestätisch über das reizvolle Städtchen erhob, an. In seinem Leben hatte er sooft Abschied nehmen müssen. Von lieben oder nicht so lieben Menschen, von Gewohnheiten, von guten, wie von schlechten, und von Dingen, die einem ans Herz gewachsen waren.
Heute war sein letzter Tag auf dieser Insel und er wusste, dass der heutige Abschied von Borkum kein Abschied für immer war.
Er war über sich selbst erstaunt, dass er die Gelassenheit hatte, diese letzten Augenblicke zu genießen. Den gesamten Weg zum Bäcker hatte er nicht eine Sekunde an Berti und Moni gedacht.
Beim Bäcker stand die Menschenschlange von der Theke bis in die Fußgängerzone. Als er endlich seine beiden frischen Brötchen erhalten hatte und sich auf den Rückweg machte, schlug die Realität mit geballter Macht zu. Das gestrige Telefonat war wieder Bestandteil seines Denkens.
Wieder in der Wohnung, musste er sich dazu zwingen, zumindest in Ruhe zu frühstücken. Aber bereits beim anschließenden Aufräumen und Säubern der Wohnung und Packen der Koffer hatte eine völlig unnötige innere Anspannung von ihm Besitz ergriffen.
Da er noch genügend Zeit hatte, ließ er die gepackten Koffer in der Wohnung stehen und ging nochmals in den Ort, um bei der Wohnungsverwaltung Bescheid zu sagen, dass er heute noch abreisen und einen der Wohnungsschlüssel zurückgeben werde. Den zweiten Schlüssel würde er in den Briefkasten werfen. So war es mit dem Vermieter vereinbart. Danach wollte er mit den Koffern ins Zentrum des kleinen Städtchens zum Abfahrtspunkt der Inselbahn gehen, die ihn zum Fährhafen bringen würde.
Hätte er in die Zukunft blicken können, hätte er mit Sicherheit die Koffer bereits auf den Weg zur Schlüsselrückgabe mitgenommen. Diese Zeiteinsparung wäre vielleicht der entscheidende Schlüssel für eine unproblematische