Sam warf einen verstohlenen Blick auf den Frager. Es war ein kleiner, ausgetrockneter Mann mit einem dunklen, runzligen Gesicht und kleinen, unruhigen schwarzen Augen, die zu jeder Seite der kleinen inquisitorischen Nase hervorblinzelten, als ob sie fortwährend mit diesem Teile seines Antlitzes Verstecken spielten. Er war ganz in Schwarz gekleidet und trug Stiefel, so glänzend wie seine Augen, eine schmale, weiße Halsbinde und ein feines Hemd mit einem Brusteinsatz. Eine goldene Uhrkette mit Petschaften hing an seiner Weste, und in den Händen, die er beim Sprechen mit der Miene eines geübten Examinators unter die Frackschöße steckte, hielt er ein Paar schwarze Lederhandschuhe.
»Viel zu tun, wie ich sehe?« sagte der kleine Mann.
»O, 's geht an, Sir«, versetzte Sam. »Wir machen nicht Bankrott, werden aber auch nicht reich. Wir essen unsern Schöpsenbraten ohne Kapern und kümmern uns wenig um Meerrettich, wenn wir Ochsenfleisch kriegen können.«
»Ah«, sagte der kleine Mann, »Ihr seid ein Durchtriebener, wie ich merke – nicht wahr?«
»Mein ältester Bruder war mit dieser Krankheit geplagt«, entgegnete Sam. »Vielleicht habe ich auch etwas davon aufgefangen, da wir miteinander in einem Bette zu schlafen pflegten.«
»Das ist ein wunderliches, altes Haus«, sagte der kleine Mann, sich umsehend.
»Hätten Sie uns nur durch ein Wort zu wissen getan, daß Sie kommen wollten, so würden wir es haben ausbessern lassen«, versetzte der unerschütterliche Sam.
Der kleine Mann schien etwas verblüfft über diese ausweichenden Antworten, und er besprach sich nun mit den beiden beleibten Herren. Dann holte sich der kleine Mann eine Prise Schnupftabak aus einer silbernen Dose und war augenscheinlich im Begriff, seine Fragen wieder aufzunehmen, als ihm einer der beleibten Herren, der in einem gutmütigen Gesicht eine Brille hatte und ein Paar schwarze Gamaschen trug, zuvor kam.
»Es handelt sich nämlich darum«, sagte der Herr mit dem gutmütigen Gesichte, »daß mein Freund hier (er deutete dabei auf den andern beleibten Herrn) Euch einen halben Goldfuchs geben will, wenn Ihr auf zwei oder drei Fragen genü –«
»Ei, mein lieber Herr – mein lieber Herr«, unterbrach ihn der kleine Mann: »ich bitte, erlauben Sie mir, mein lieber Herr. Der erste Grundsatz in der Behandlung solcher Fälle besteht darin, daß man sich in keiner Weise darein mengt, wenn man die Sache einmal einem Geschäftsmann übertragen hat, da dieser mit Recht unbedingtes Vertrauen verlangen kann. In der Tat, Herr –« er wandte sich an den andern beleibten Gentleman und fügte bei, »– ich habe den Namen Ihres Freundes vergessen.«
»Pickwick«, sagte Herr Wardle, denn es war kein anderer als dieser Ehrenmann.
»Ah, Pickwick: richtig, Herr Pickwick. Mein lieber Herr, entschuldigen Sie – ich werde mich glücklich schätzen, Ihre Privatansichten als die eines Freundes des Hauses entgegenzunehmen. Aber Sie müssen einsehen, wie wenig sich die Einmengung eines derartigen Arguments, einer goldenen Schmeichelei, wie sie das Anbieten einer halben Guinee ist, mit meinen Grundsätzen verträgt. Gewiß, lieber Herr, gewiß!«
Und der kleine Mann nahm eine beweisende Prise Tabak, wozu er das Gesicht in ungemein gelehrte Falten legte.
»Ich wollte weiter nichts«, sagte Herr Pickwick, »als die höchst mißliebige Angelegenheit zu einem möglichst schleunigen Ende bringen.«
»Ganz recht – ganz recht«, sagte der kleine Mann.
»In dieser Absicht«, fuhr Herr Pickwick fort, »machte ich Gebrauch von einem Argumente, das mir meine Erfahrung als das förderlichste für alle Fälle bezeichnet.«
»Ja, ja«, sagte der kleine Mann: »sehr gut, sehr gut – in der Tat. Aber Sie hätten mir das mitteilen sollen. Ich bin überzeugt, mein lieber Herr, daß Sie über den Umfang des Vertrauens, den ein Geschäftsmann zu beanspruchen hat, nicht im unklaren sein können. Wenn über diesen Punkt eine Autorität nötig sein sollte, möchte ich Sie auf den wohlbekannten Fall von Barnwell20 und –«
»Was geht uns Georg Barnwell an«, fiel Sam ein, der diesem kurzen Zwiegespräch verwundert zugehört hatte. »Jedermann weiß, was das für ein Fall war, und es ist immer meine Ansicht gewesen, daß das junge Weibsbild den Strick eher verdiente als er. Doch das gehört nicht hierher. Sie wollen mich für einen halben Goldfuchs ausfragen. Gut, ich habe nichts dagegen – kann ich mehr tun, Sir? (Herr Pickwick lächelte.) Nun ist aber die zweite Frage, was zum Teufel Sie von mir wollen, wie der Mann sagte, als er den Geist sah.21
»Wir wünschen zu wissen –« sagte Herr Wardle.
»Ei, mein lieber Herr – mein lieber Herr«, fiel der geschäftige kleine Mann ein.
Herr Wardle zuckte die Achseln und schwieg.
»Wir wünschen zu wissen«, sagte der kleine Mann feierlich, »und wir fragen deshalb gerade Euch, um im Hause keine Besorgnisse zu erregen – wir wünschen zu wissen, sage ich, wer gegenwärtig im Wirtshause logiert.«
»Wer im Hause logiert?« versetzte Sam, in dessen Geist sich die Bewohner stets in der Form des Artikels vergegenwärtigten, der seiner unmittelbaren Besorgung anheimgegeben war. »Da ist ein Stelzfuß in Nummer Sechs«, ein Paar hessische Stiefel in Nummer Dreizehn, zwei Paar Halbstiefel in dem Krämerstübchen, diese gelben Stulpen in dem Kämmerchen neben dem Schenktisch, und fünf weitere Stulpenstiefel in dem Gastzimmer.«
»Weiter nichts?« fragte der kleine Mann.
»Halt, einen Moment«, versetzte Sam, sich plötzlich entsinnend. »Ein Paar ziemlich abgetragene Wellingtonstiefel und ein Paar Damenschuhe in Nummer Fünf.«
»Was sind das für Schuhe?« fragte Wardle hastig, den Sams wunderliche Aufzählung der Wirtshausgäste ebensosehr, wie Herrn Pickwick verwirrt hatte.
»Machwerk aus der Provinz«, entgegnete Sam.
»Und der Name des Meisters?«
»Brown.«
»Woher?«
»Von Muggleton.«
»Sie sind's!« rief Herr Wardle. »Beim Himmel, wir haben sie gefunden.«
»Pst!« sagte Sam. »Die Wellingtonstiefel sind zu Doktors Commons gegangen.«
»Unerhört«, sagte der kleine Mann.
»Ja, er holt eine Lizenz.«
»Wir kommen gerade noch zur rechten Zeit«, rief Herr Wardle. »Zeigt uns das Zimmer: wir dürfen keinen Augenblick verlieren.«
»Bitte, lieber Herr – bitte«, sagte der kleine Mann: »nur vorsichtig – vorsichtig.«
Er zog aus seiner Tasche eine rotseidene Börse, sah Sam fest an und zog ein Goldstück heraus.
Sam verzog sein Gesicht zu einem ausdrucksvollen Grinsen.
»Führt uns rasch nach dem Zimmer, aber ohne uns anzumelden, und das Goldstück ist Euer«, sagte der kleine Mann.
Sam warf die gelben Stulpen in eine Ecke und ging durch einen dunklen Gang und ein weites Treppenhaus voran. Am Ende des zweiten Ganges hielt er inne und streckte seine Hand aus.
»Hier«, flüsterte der Sachwalter, als er das Geld in die Hand ihres Führers legte.
Sam trat noch einige Schritte weiter vor, wobei ihm die beiden Freunde und ihr rechtskundiger Ratgeber folgten: dann blieb er an einer Tür stehen.
»Ist dies das Zimmer?« fragte der kleine Herr leise.
Sam nickte bejahend.
Der alte Wardle öffnete die Tür, und alle drei traten in demselben Augenblick ins Zimmer, als Herr Jingle, der eben zurückgekehrt war, der Jungfer Tante die Lizenz vorlegte.
Die Jungfer Tante stieß einen lauten Schrei aus, warf sich