Aber hier gab es wieder eine Zögerung. Die Postjungen lagen in einem so geheimnisvoll tiefen Schlaf, daß man bei jedem fünf Minuten brauchte, um ihn zu wecken. Der Stallknecht hatte den Stallschlüssel verlegt, und selbst als dieser gefunden war, verwechselten die Postillione die Pferdegeschirre, so daß das Geschäft der Zurichtung wieder aufs neue begonnen werden mußte. Wäre Herr Pickwick allein gewesen, diese vielen Hindernisse hätten jedem Weiterfahren auf einmal ein Ziel gesteckt! aber der alte Herr Wardle war nicht so leicht zu entmutigen. Er ging bei allem so rührig an die Hand, knuffte hin und wieder einen der Burschen, zog da eine Schnalle an und legte dort eine Kette ein, so daß der Wagen in weit kürzerer Zeit, als sich unter so vielen Schwierigkeiten erwarten ließ, zum Abfahren bereit stand.
Sie nahmen die Reise – allerdings nicht unter besonders günstigen Umständen – wieder auf. Die Station war fünfzehn Meilen lang, die Nacht finster, der Sturm heftig, und der Regen schüttete in Strömen. Es war unmöglich, unter solchen Verhältnissen rasch vorwärts zu kommen. Ein Uhr hatte es bereits geschlagen, und man brauchte fast zwei Stunden, um die andere Station zu erreichen. Hier trafen sie jedoch auf einen Umstand, der alle ihre Hoffnungen wieder aufleben machte und ihren sinkenden Mut hob.
»Wann ist diese Nacht eine Kutsche angekommen?« rief der alte Wardle, aus seinem eigenen Wagen springend, und auf ein Fuhrwerk deutend, das, mit Kot bedeckt, auf dem Hof stand.
»Vor nicht ganz einer Viertelstunde, Sir«, versetzte der Stallknecht, an den diese Frage gerichtet war.
»Ein Herr und eine Dame?« fragte Wardle mit fast atemloser Hast.
»Ja, Sir.«
»Der Herr groß – dünn – lange Beine?«
»Ja, Sir.«
»Dame ältlich – schmales Gesicht – etwas mager – wie?«
»Ja, Sir.«
»Beim Himmel, sie sind's, Pickwick!« rief der alte Herr.
»Sie wären schon früher angelangt, wenn ihnen nicht ein Zugstrang zerrissen wäre«, sagte der Stallknecht.
»Sie sind's«, rief Herr Wardle. »Gerechter Himmel, sie sind's! Geschwind – eine Kutsche und vier Pferde! Wir holen sie ein, noch ehe sie die nächste Station erreichen. Jedem einen Goldfuchs, Jungens – rührt euch – tapfer – so; brave Burschen.«
Unter solchen Ermunterungen rannte der alte Herr geschäftig im Hofe hin und her. Er war in einer Aufregung, die sich sogar Herrn Pickwick mitteilte, so daß dieser Gentleman gleichfalls an dem Einschirren der Pferde mithalf und auf eine ganz wundersame Weise nach den Rossen und den Rädern sah, fest überzeugt, durch seine Mitwirkung die Vorbereitungen zum schleunigsten Aufbruch wesentlich zu fördern.
»Hinein – hinein!« rief der alte Wardle, indem er in den Wagen stieg, den Tritt nachzog und den Schlag schloß. »Kommen Sie – beeilen Sie sich.«
Und noch ehe Herr Pickwick wußte wie, fühlte er sich durch einen tüchtigen Ruck von seiten des alten Herrn und durch einen Nachschub des Stallknechts durch den andern Schlag in den Wagen gehoben. Dann ging es wieder weiter.
»So – jetzt sind wir wieder in Bewegung«, rief der alte Herr frohlockend.
Das war auch in der Tat der Fall, wie Herr Pickwick aus den häufigen Zusammenstößen mit der Kutschenwand und seinem Nachbar am besten empfand.
»Greifen Sie nach dem Halter«, sagte Herr Wardle, als ihm Herrn Pickwicks Kopf gegen die Rippen fuhr.
»Ich bin in meinem Leben nie so gerüttelt worden«, entgegnete Herr Pickwick.
»Macht nichts«, versetzte sein Gefährte: »wird bald vorüber sein. Halten Sie sich nur fest.«
Herr Pickwick drückte sich so fest er konnte in seine Ecke, und der Wagen rollte schneller als je dahin.
Sie hatten in dieser Weise ungefähr drei Meilen zurückgelegt, als Herr Wardle, der auf ein paar Minuten durch den Schlag hinaus gesehen, plötzlich den von Kot bespritzten Kopf zurückzog und in atemloser Hast ausrief:
»Dort sind sie!«
Herr Pickwick steckte den Kopf gleichfalls durch das Fenster. Ja, es war eine Kutsche mit vier Pferden, die in vollem Galopp in kurzer Entfernung vor ihnen dahinsprengte.
»Vorwärts! vorwärts!« schrie der alte Herr. »Zwei Goldfüchse für jeden. Jungen – holt sie ein – drauf – drauf!«
Die Pferde der ersten Kutsche jagten in höchster Eile davon, und Herrn Wardles jagten wütend hinterdrein.
»Ich sehe seinen Kopf«, rief der cholerische alte Herr; »ich will verdammt sein, wenn ich nicht seinen Kopf sehe.«
»Ich gleichfalls«, sagte Herr Pickwick. »Er ist's!«
Herr Pickwick hatte sich nicht geirrt. Herrn Jingles Gesicht, über und über mit Straßenkot bespritzt, war deutlich an dem Fenster der Kutsche zu erkennen, und die ungestümen Bewegungen seines Armes verrieten, daß er die Postillione antrieb, ihr Äußerstes zu tun.
Die Spannung war aufs höchste gesteigert. Felder, Bäume und Hecken schienen mit der Schnelligkeit des Windes an ihnen vorbeizufliegen, so jagten die Rosse dahin. Sie waren hart an der ersten Kutsche und konnten Jingles Stimme selbst unter dem Rädergerassel die Postillione antreiben hören. Der alte Wardle schäumte vor Zorn und Wut. Er warf ihm »Schurken« und »Spitzbuben« zu Dutzenden nach und schüttelte die Faust nachdrücklich gegen den Gegenstand seiner Entrüstung. Aber Herr Jingle antwortete nur mit einem verächtlichen Lächeln und erwiderte die Drohungen des alten Herrn durch lautes Frohlocken, als seine Pferde unter Beihilfe der Peitsche und des Sporns rascher anzogen und die Verfolger weit hinter sich ließen.
Herr Pickwick hatte eben seinen Kopf zurückgezogen und Herr Wardle, von seinem Schreien erschöpft, das gleiche getan, als sie durch einen furchtbaren Stoß des Wagens gegen die Vorderseite geschleudert wurden. Ein dumpfer Ton – ein lautes Krachen – ein Rad flog ab, und die Kutsche schlug um.
Nach einigen Augenblicken der Verwirrung und Bestürzung, in denen sich nichts als das Ausschlagen der Pferde und das Klirren der Glasscheiben vernehmen ließ, fühlte sich Herr Pickwick gewaltsam aus dem zertrümmerten Wagen hervorgezogen, und als er endlich auf seinen Beinen stand und sich aus den Schößen seines Überrocks auswickelte, die den Gebrauch seiner Brille wesentlich beeinträchtigten, gewahrte er den ganzen Umfang des Unheils, das ihnen zugestoßen war.
Der alte Herr Wardle stand ihm ohne Hut und mit zerrissenen Kleidern zur Seite, und die Bruchstücke des Wagens lagen zu ihren Füßen. Die Postillions, denen es gelungen war, die Stränge abzuschneiden, standen, beschmutzt und von dem scharfen Ritt erschöpft, bei ihren Pferden. Die andere Kutsche hatte einen Vorsprung von ungefähr hundert Schritten und machte halt, als man dort das Krachen vernahm. Die Postillione blickten aus ihren Sätteln mit grinsenden Gesichtern zurück, und Herr Jingle, der das Unglück aus dem Kutschenfenster mit angesehen hatte, zeigte gleichfalls eine nicht unzufriedene Miene. Der Tag brach eben an, so daß sich die ganze Szene im Dämmerlicht des Morgens deutlich unterscheiden ließ.
»Holla!« rief der schamlose Jingle: »Jemand beschädigt? – Ältere Herren – nicht leicht – gefährliche Arbeit – wahrhaftig.«
»Sie sind ein Schurke!« brüllte Wardle.
»Ha! ha!« lachte Herr Jingle. Dann fügte er mit einem bedeutsamen Winke und einer Bewegung seines Daumens gegen das Innere seiner Kutsche bei – »ich sage – sie ist ganz wohl – besten Gruß von ihr – bittet. Sie möchten sich ihretwegen nicht bemühen – läßt Tuppy grüßen – wollen Sie nicht hinten aufsitzen? – Vorwärts, Jungen«!«
Die Postillione nahmen wieder ihre