Die Kunst des Aufstands. Wilfried Metsch. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Wilfried Metsch
Издательство: Bookwire
Серия: kritik & utopie
Жанр произведения: Изобразительное искусство, фотография
Год издания: 0
isbn: 9783854767053
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der abstrakte Entwicklungsstand des Kapitalverhältnisses einer Gesellschaft, sondern das jeweils vorherrschende politische System des kapitalistischen Staates (sein Repressionsgrad) und die Gewaltintensität der jeweiligen Klassenkampfkonjunktur ausschlaggebend für die Möglichkeit oder Unmöglichkeit eines friedlichen Transformationsprozesses.

      Die Arbeiterbewegung in der antifeudal-bürgerlichen Volksrevolution

      Die politische Transformation der feudalen Produktionsweise in eine bürgerlich-kapitalistische kann, wie die Geschichte zeigt, in unterschiedlicher Weise erfolgen: als schrittweise Umwandlung (»Reform/Revolution von oben«) oder als revolutionärer Prozess aufständischer Volksmassen. Für letztere beziehen sich Marx und Engels hauptsächlich auf die Französische Revolution von 1789 und die europäischen Revolutionen von 1848/49. Anhand dieser Erfahrungen erteilen sie der Arbeiterbewegung in der antifeudal-bürgerlichen Revolution strategische und taktische Ratschläge.

      Da die Republik »die Herrschaftsform der Bourgeoisie«,64 aber auch »die fertige politische Form für die künftige Herrschaft des Proletariats«65 ist, ist es im Eigeninteresse der Arbeiterbewegung, diese Herrschaftsform zunächst im Bündnis mit der Bourgeoisie und dem Kleinbürgertum gegen feudale politische Herrschaftsformen durchzusetzen, denn damit ergibt sich eine günstige »neue Operationsbasis für weitere Eroberungen«.66 Ohne das Erreichen von Versammlungs- und Redefreiheit sowie Grundrechten kann die Arbeiterbewegung »ihre Organisation als kämpfende Klasse nicht herstellen«.67 So ist eine antifeudale »wirkliche Volksbewegung«68 zur Etablierung bürgerlicher Verhältnisse vom Proletariat zu unterstützen, auch wenn es selbst noch »zu schwach (ist), um einen bevorstehenden Sieg des Sozialismus erhoffen zu können.«69

      In »Revolution und Konterrevolution« beschreibt Engels diese Option:

      »Die Arbeiterklasse griff zu den Waffen in dem vollen Bewußtsein, daß dieser Kampf in seiner unmittelbaren Zielsetzung nicht ihrer eigenen Sache gelte; sie befolgte jedoch die für sie allein richtige Taktik, keiner Klasse, die (wie die Bourgeoisie im Jahre 1848) auf ihren Schultern emporgestiegen, die Festigkeit ihrer Klassenherrschaft zu gestatten, ohne mindestens dem Kampf der Arbeiterklasse für ihre eigenen Interessen freie Bahn zu eröffnen (…).«70

      Zehn Jahre später formuliert Engels in der Schrift »Die preußische Militärfrage und die deutsche Arbeiterpartei« diesen strategischen Zusammenhang:

      »Die Bourgeoisie kann ihre politische Herrschaft nicht erkämpfen, diese politische Herrschaft nicht in einer Verfassung und in Gesetzen ausdrücken, ohne gleichzeitig dem Proletariat Waffen in die Hand zu geben. (…) Konsequenterweise muß sie also das allgemeine, direkte Wahlrecht, Preß-, Vereins- und Versammlungsfreiheit und Aufhebung aller Ausnahmegesetze gegen einzelne Klassen der Bevölkerung verlangen. Dies ist aber auch alles, was das Proletariat von ihr zu verlangen braucht. Es kann nicht fordern, daß die Bourgeoisie aufhöre, Bourgeoisie zu sein, aber wohl, daß sie ihre eigenen Prinzipien konsequent durchführe. Damit bekommt das Proletariat aber auch alle die Waffen in die Hand, deren es zu seinem endlichen Siege bedarf. Mit der Preßfreiheit, dem Versammlungs- und Vereinsrecht erobert es sich das allgemeine Stimmrecht, mit dem allgemeinen, direkten Stimmrecht, in Vereinigung mit den obigen Agitationsmitteln, alles übrige. Es ist also das Interesse der Arbeiter, die Bourgeoisie in ihrem Kampfe gegen alle reaktionären Elemente zu unterstützen, solange sie sich selbst treu bleibt«.71

      Nach der Erringung der Republik und mit der Teilhabe/Herrschaft des Bürgertums an der Macht endet dieses Zweckbündnis jedoch. Die Arbeiterklassenbewegung bildet sofort die »neue Opposition«,72 da »es unser Interesse und unsere Aufgabe (ist), die Revolution permanent zu machen, solange bis alle mehr oder weniger besitzende Klassen von der Herrschaft verdrängt sind.«73

      Allerdings existieren in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts erst »Plebejer, die Anfänge des späteren Proletariats«74 oder das »Vorproletariat«.75 Die eigentlichen und »geborne[n] Repräsentanten des revolutionären Sozialismus wie die Arbeiter der Großindustrie«76 erscheinen erst mit der kapitalistischen industriellen Revolution in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts. Diesen Unterschied in den Konstituierungsbedingungen des Proletariats gilt es zu beachten: Je entwickelter der Kapitalismus und sein Zwillingsbruder Arbeiterklasse, desto geringer ist aufgrund des Antagonismus ihrer Interessen die Wahrscheinlichkeit eines echten Bündnisses von Bourgeoisie und Arbeiterbewegung gegen feudale Gesellschaftsverhältnisse.

      Grundsätzlich waren die frühen antifeudal-bürgerlichen Revolutionsbewegungen »geleitet, (…) von einer Minorität«, dem Bürgertum, und ihrem Inhalt nach immer noch »Minoritätsrevolutionen«, »selbst wenn die Majorität« (das Volk, die Arbeiter) »dazu mittat«.77

      In der berühmten Ansprache der Zentralbehörde an den Bund der Kommunisten im März 1850 formulieren Marx und Engels anhand der Erfahrungen der Revolutionen von 1848/49 zwei grundlegende Prinzipien für die entstehende Arbeiterklassenbewegung:

      1.Die Arbeiter sollen »ihre selbständige Parteistellung sobald wie möglich einnehmen« und sich »keinen Augenblick an der unabhängigen Organisation der Partei des Proletariats irremachen lassen.«78 Sie sollen in revolutionären Zeiten »in der Form von Gemeindevorständen, Gemeinderäten, sei es durch Arbeiterklubs oder Arbeiterkomitees« quasi »eigene revolutionäre Arbeiterregierungen«79 bilden und bei jeder Gelegenheit »ihre eigenen Kandidaten aufstellen, um ihre Selbständigkeit zu bewahren, ihre Kräfte zu zählen, ihre revolutionäre Stellung und Parteistandpunkte vor die Öffentlichkeit zu bringen.«80

      1892 betont Engels in einem Brief an Kautsky diesen zentralen Punkt erneut: »In unserer Taktik steht eins fest für alle modernen Länder und Zeiten: Die Arbeiter zur Bildung einer eignen, unabhängigen und allen bürgerlichen Parteien entgegengesetzten Partei zu bringen.«81

      2.Im Revolutionsprozess »müssen die Arbeiter bewaffnet und organisiert sein«.82 Sie sollen versuchen, »sich selbständig als proletarische Garde, mit selbstgewählten Chefs und eigenem selbstgewählten Generalstabe zu organisieren.«83 »Die Bewaffnung des ganzen Proletariats mit Flinten, Büchsen, Geschützen und Munition muss sofort durchgesetzt (…) werden.«84 Diese bewaffnete proletarische Garde hat unter den »Befehl« der »von den Arbeitern durchgesetzten revolutionären Gemeinderäte zu treten.«85

      1871 betont Marx unter dem Eindruck der Unterdrückung der Pariser Kommune auf einer Rede zum siebenten Jahrestag der Internationalen Arbeiterassoziation: »Die arbeitenden Klassen müßten sich das Recht auf ihre Emanzipation auf dem Schlachtfeld erkämpfen« und »erste Voraussetzung sei eine Armee des Proletariats«.86

      Während des Aufstands den »Kern einer revolutionären Armee zu organisieren«,87 ist jedoch aufgrund der asymmetrischen Ausgangslage eine schwer zu lösende Aufgabe, denn zumeist verfügt die herrschende Regierungsmacht über intakte und überlegene Streitkräfte zur Niederschlagung der Insurrektion. Prinzipielle Unterlegenheit der Aufständischen (s. u.) charakterisiert den bewaffneten Konflikt.

      Zum Verständnis dieser Problematik sei kurz angemerkt, dass im 19. Jahrhundert keine (kasernierten/paramilitärischen) Polizeikräfte zur Bekämpfung von Aufständen und Unruhen existierten. Diese Aufgabe oblag dem Militär und wurde durch Ausrufung des Belagerungszustandes und der Unterstellung der Zivilbehörden unter das militärische Kommando realisiert. Erst in und nach der Weimarer Republik kam es schrittweise zur Militarisierung der Polizei, um Unruhen niederzuwerfen. Die Militarisierung der Polizei hat inzwischen enorme Ausmaße angenommen und ist zur Revolutionsunterdrückung bestens geeignet. Das Militär übernimmt nur noch bei extremen Gewaltauseinandersetzungen – im Rahmen von Notstandsgesetzen – Polizeifunktionen zur Herstellung von Ruhe und Ordnung.88

      Die brutale Unterdrückungsfunktion des Militärs hat Friedrich Engels während der Revolution von 1848/49 am eigenen Leib erfahren; sie hat ihn zu umfangreichen militärischen Studien veranlasst.89

      Die Problematik des frühproletarischen Aufstands