Dich hat der Esel im Galopp verloren. Ellen Schwiers. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Ellen Schwiers
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Изобразительное искусство, фотография
Год издания: 0
isbn: 9783355500654
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seiner Mitarbeiter wie möglich auf dem LKW unterzubringen. Doch einige mussten zurückbleiben und ihr Schicksal selbst in die Hand nehmen.

      Wie gut wir daran getan hatten, schnellstens zu fliehen, erfuhren wir Wochen später, als Onkel Heinrich zu uns stieß. Auf unserem Bauernhof hatte keiner die Ankunft der Russen überlebt.

      Onkel Heinrich hatte Order gegeben, kein Gepäck mitzunehmen, also zogen wir für die Flucht unsere gesamte Kleidung übereinander an. Außer meinem eigenen Mantel war ich noch in einen zweiten von meiner Mutter geschlüpft, und Gösta hatte über seinen Mantel noch einen von mir gezogen. Mein Bruder bekam ein frisch geschlachtetes Huhn für unsere Verpflegung unterwegs auf den Rücken gebunden, und ich trug einen Rucksack und das Köfferchen mit dem Silberbesteck.

      Auf dem LKW wurden wir auf der Ladefläche unter einer Plane versteckt, wir durften nicht gesehen werden. Für den Fall, dass man uns anhalten würde, erhielt Gösta die Aufgabe, das Baby meiner Tante ruhig zu halten, was den Sechsjährigen ziemlich überforderte. Wir durften nicht unter der Plane herausschauen, taten es natürlich trotzdem. Auf diese Weise bekamen wir auch mit, dass wir an mehreren Flüchtlingstrecks vorbeifuhren. ­Schließlich kamen uns deutsche Militärfahrzeuge entgegen, die mit Holzgas betrieben wurden. Meine Mutter sah das zum ersten Mal und stellte resigniert fest: »Wir werden diesen Krieg verlieren, wir haben ja nicht einmal mehr Benzin.«

      Vor Frankfurt an der Oder wurden wir von deutschen Soldaten angehalten. Sie bedeuteten uns auszusteigen und konfiszierten den Lastwagen. Zwei Sekretärinnen der DVL, die mit im Wagen gesessen hatten, zeterten und gestikulierten und versuchten, den Soldaten klarzumachen, dass sie hochbrisante geheime Dokumente nach Berlin bringen müssten. Doch es half alles nichts, der Wagen wurde beschlagnahmt. Ich habe mich später manchmal gefragt, was das wohl für ein brisantes Material war, das hier befördert und nun so schmachvoll zusammen mit dem LKW einfach entwendet wurde.

      Da standen wir nun alle an der Straße. Tante Jette war der Meinung, dass wir von der Himmelsrichtung her gesehen weiter nach Nordwesten gehen müssten. Also verließen meine Mutter, meine Tante und wir fünf Kinder die Straße und zweigten in den Wald ab.

      Es war bitterkalt. Ich war die Älteste und hatte die Babyflasche unter meiner Achselhöhle, damit sie nicht ebenso einfror wie unser Brot, das bereits zu einem Eisklumpen geworden war und nicht mehr gekaut werden konnte. Im Wald lag zwar nicht so viel Schnee, aber es gab auch keinen richtigen Weg. Wir mussten uns unseren Pfad durch das Unterholz schlagen. Nach Stunden wurde uns dabei so heiß, dass wir Kinder anfingen, uns auszuziehen. Es fiel mir nicht leicht, den Mantel meiner Mutter im Wald zurückzulassen. Auch mein Bruder warf meinen Mantel weg. Irgendwann setzte meine Mutter sich auf einen Baumstumpf und wollte keinen Schritt mehr weitergehen. Voller Verzweiflung habe ich auf sie eingeschlagen, um sie zum Aufstehen zu bewegen. »Dir wird die Hand aus dem Grabe wachsen. Du hast deine Mutter geschlagen«, warf sie mir vor. Das war eine entsetzliche Drohung, die mich verstörte, aber ich hatte immerhin erreicht, dass sie sich weiterschleppte.

      Wir sind den Rest des Tages und die folgende Nacht durch den Wald gelaufen. Als es dämmerte, waren wir nicht mehr sicher, ob die Richtung noch stimmte. Wir hatten uns immer nach dem Geräusch der Front gerichtet. Solange wir das Donnern hinter uns hörten, war uns klar, dass wir gen Westen liefen. Jetzt aber hörten wir auch Motorengeräusche im Süden. Tante Jette und ich wollten es genauer wissen und liefen in diese Richtung, bis wir auf die Hauptstraße stießen. Was wir dort sahen, war schockierend: Russische Panzer hatten einen Flüchtlingstreck von der Straße gedrängt und zum Teil niedergewalzt. Was wir im Wald gehört hatten, war das Dröhnen der Motoren von Militärfahrzeugen, das Stöhnen und Schreien von Menschen und Tieren. Einige Fuhrwerke standen zerbrochen am Rand, Pferden waren die Beine abgefahren worden. Es war ein grausiger Anblick. Wir sind sofort wieder umgekehrt, um uns weiter durch den Wald zu schlagen.

      Als die zweite Nacht anbrach, stießen wir endlich auf eine Siedlung und klingelten beim erstbesten Haus. Wir wurden hereingelassen und bekamen ein leeres, unmö­bliertes Zimmer zugewiesen. Es war eine kalte Nacht, und wir hatten nichts Warmes mehr dabei, hatten wir uns doch all der übereinandergezogenen Mäntel, Jacken, Pullover entledigt. Mich plagten entsetzliche Zahnschmerzen. Als es hell wurde, ging ein alter Mann mit mir zu einem Zahnarzt, der mir kurzerhand ohne Betäubung einen Backenzahn zog. Die Betäubungsmittel waren knapp und für die Soldaten reserviert. Der Schmerz verschwand aber sofort.

      Die Familie, bei der wir übernachtet hatten, gab uns einen Schlitten, auf den konnten wir nun das Baby und seine vierjährige Schwester setzen. Das war eine große Erleichterung. Vor uns lag ein weiterer langer Tag. In völliger Dunkelheit erreichten wir endlich Bohnsdorf, einen Vorort im Osten von Berlin. In einem kleinen Zweifamilienhaus im ersten Stock lag die Wohnung von Tante Jette. Sie war total ausgeräumt, denn die Tante hatte all ihren Besitz mit nach Kreuzburg genommen. Es gab nichts. Keinen Tisch, keinen Stuhl, kein Bett. Zum Glück besaßen wir noch das Huhn, und ich hatte, gleich nachdem Onkel Heinrich uns wissen ließ, dass er einen LKW schicken würde, vor unserem Aufbruch Reise-Lebensmittelkarten organisiert. Ich war in Paradies runter ins Dorf gelaufen, um meine Mutter, Gösta und mich beim Bürgermeisteramt abzumelden. Ich bin im Dritten Reich großgeworden, also wusste ich auch, wie es funktionierte. Tante Jette, die sich oft unkonventionell verhielt und davon ausging, dass sich alles schon irgendwie fügen werde, hatte das versäumt und geriet ohne Vorlage der Abmeldung nun in große Schwierigkeiten, an Lebensmittelkarten zu kommen, weshalb unsere ganze Truppe zunächst mit drei Lebensmittelkarten auskommen musste.

      Dann stand irgendwann Onkel Heinrich frierend und fix und fertig vor der Tür. Trotz der Kälte hatte er nur noch Hemd und Hose an. Als Tante Jette ihm die Tür aufmachte, brach mein aufrechter, zuverlässiger Onkel mit den Worten: »Jette, du besitzt nichts mehr«, in ihren Armen zusammen. Zum ersten Mal habe ich einen Mann so erbarmungswürdig weinen sehen. Das war erschütternd. Waren die Männer nicht eigentlich unser Schutz und unsere Stütze? Doch die Erwachsenen konnten uns Kindern ihr Entsetzen und ihre Hilflosigkeit in diesem Krieg nicht verbergen.

      Onkel Heinrich war zwei Tage und zwei Nächte zu Fuß unterwegs gewesen. Er hatte noch versucht, die gesamten DVL-Dokumente auf dem Hof hinter Schränken zu verstecken. Das Forschungsmaterial ist vermutlich den Russen in die Hände gefallen. Onkel Heinrich hat lange geglaubt, dass wir den Krieg gewinnen würden, da die Deutschen eine Wunderwaffe entwickelten. Damit meinte er die A-9- und A-10-Raketen. Doch die Entwicklung der Raketen war noch nicht ausgereift – sie sind nicht zum Einsatz gekommen.

      Es wurden schwere Luftangriffe auf Berlin geflogen. Wir saßen in diesem kleinen Häuschen in Bohnsdorf wie in einer Mausefalle, und zum ersten Mal glaubte ich nicht mehr, dass wir lebend davonkommen würden. Um uns herum bebte die Erde. Man hörte die Bomben, noch bevor sie die Erde erreichten. Durch den Luftdruck und den Rauch bekam man kaum noch Luft. Eine Mine war in den Vorgarten gefallen, glücklicherweise ein Blindgänger, der nicht explodierte. Wir saßen alle im Keller vor dem Volksempfänger, der meldete, dass die erste Welle gerade Berlin bombardierte und dass sich die zweite Welle im Luftraum über Krefeld im Anflug auf Berlin befand. Es war der schwerste Luftangriff, den wir bisher erlebt hatten. Wir erlitten Todesangst. Es war einfach unvorstellbar, dass wir dieses Getöse, dieses Erdbeben, diesen Welt­untergang, dieses Inferno überleben könnten. Alles, was wir bisher durchgestanden hatten, schien umsonst. Und es war der Tag, an dem ich zum zweiten Mal in diesem Krieg zusammengeklappt bin und nicht mehr aufhören konnte, zu weinen.

      Am nächsten Tag gingen wir zum Bahnhof, um mit dem Zug in den Westen zu entkommen. Auf den Bahnsteigen und an den Gleisen, bis weit aus dem Bahnhof hinaus, drängten sich die Menschenmassen. Den ganzen Tag warteten wir stehend und verließen unseren Platz nicht, obwohl die Fliegeralarme immer wieder Panik bei den Menschen auslösten. Wenn die Züge hielten, waren sie immer schon rappelvoll. Viele sprangen einfach auf die einfahrenden Züge auf. Irgendwann war mir klar, dass wir so niemals in einen Zug kommen würden. Als wieder ein einfahrender Zug angekündigt wurde, sprang ich unter dem Protestgeschrei meiner Mutter ins Gleisbett und lief nach vorne, um den Zug abzupassen, bevor er in den Bahnsteig einfuhr. Der Zug rollte an, und als mir dämmerte, dass mir niemand helfen würde, rechtzeitig von den Gleisen wieder herunterzukommen, bin ich einfach in die Menge hineingesprungen. Dabei habe ich auch Menschen umgerissen. Die Lokomotive zog an mir vorbei, dahinter ein Kohlewagen, danach kam ein Waggon mit einem Geschütz, dahinter