Dich hat der Esel im Galopp verloren. Ellen Schwiers. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Ellen Schwiers
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Изобразительное искусство, фотография
Год издания: 0
isbn: 9783355500654
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Dass ich alles andere als arisch aussah, wusste ich ja. Wahrscheinlich würde nun die Wahrheit ans Licht kommen, nämlich dass ich tatsächlich ein angenommenes Kind war, ein »Papp-Chines«.

      Meine Eltern hatten wegen des Ariernachweises den größten Krach ihres Lebens. Die Unterlagen zusammenzusuchen war mühsam und schikanös. In der Linie meiner Mutter tauchte eine Franziska Neuschild, eine Berliner Jüdin auf, und bei meinem Vater stellte sich heraus, dass einer seiner Ur-Ur-Großväter ein sogenannter ›hochherrschaftlicher Pferdeknecht‹ gewesen war. Wann immer meine Eltern sich zukünftig stritten, hieß es nun bei meiner Mutter als äußerste Demütigung: »Das ist wohl der ›hochherrschaftliche Pferdeknecht‹, der aus dir spricht.«

      Seit 1933 war unzensiertes, engagiertes Theater nicht mehr möglich. Nach dem Reichstagsbrand am 28. Februar 1933 erließen die Nationalsozialisten die »Verordnung zum Schutz von Volk und Staat«, ein Ausnahmezustand, der die wichtigsten Grundrechte der Weimarer Verfassung außer Kraft setzte und bis 1945 nicht mehr aufgehoben werden sollte. So konnte die Regierung ihre Ideologie nun in juristisch abgesicherter Form durchsetzen, durch Gleichschaltung, Propaganda, Terror und straffe Organisation. Jeder Staatsbürger sollte organisatorisch registriert sein, alle Kulturschaffenden wurden einheitlich in der Reichskulturkammer erfasst, die dem Reichs­propagand­ministerium untergeordnet war. So war es für die Schauspieler Pflicht, Mitglied in der Reichskulturkammer zu sein, sonst wurde ein Berufsverbot gegen sie verhängt.

      Die Intendanten einiger kleiner Stadttheater wie Gera oder Halberstadt, an denen mein Vater engagiert war, entwickelten zudem den Ehrgeiz, der Reichskulturkammer in Berlin melden zu können, dass die Mitglieder des Theaters geschlossen in die NSDAP eingetreten waren. Das war auch ausdrücklich von der Partei gewünscht, denn so konnten die Theater kontrolliert und gleichgeschaltet werden und die Intendanten mussten nicht nur der Stadtverwaltung, sondern auch dem jeweiligen Gauleiter berichten.

      Meine Eltern hielten nichts von der NSDAP, sie fühlten sich denen nicht zugehörig, es war für sie die Partei der kleinen Leute. Sie selber sahen sich als Intellektuelle. Mein Vater haderte mit der Partei vor allem aus ideellen Gründen, denn sein Vater war Vorsitzender der Freimaurerloge in Stettin gewesen, die verboten worden war. Er selber wiederum gehörte der Münchner Burschenschaft Rhenania an, die ebenfalls unter die verbotenen Organisationen fiel. Die Rhenania bekannte sich gemäß ihrem Wahlspruch zu Demokratie und Freiheitsrechten und lehnte extremistische Positionen ab. Mein Vater weigerte sich also, in die Partei einzutreten, und verlor ein Engagement nach dem anderen. Bei uns zu Hause breitete sich bittere Armut aus.

      Schließlich wurde mein Vater in Kolberg für das Sommertheater engagiert. Unter der Bedingung, dass er in die Partei eintrat, bot man ihm zusätzlich sogar noch die Winterspielzeit an. Erneut weigerte er sich. Ich erinnere mich an einen Kollegen, der daraufhin vehement auf ihn einredete und ihm die SA oder SS mit den Worten schmackhaft zu machen versuchte, dass er dann eben nicht in der Partei wäre, was er ja ablehne, sondern in einem der Verbände, und das würde doch sicher in Ordnung gehen. Er stellte meinem Vater in Aussicht, in diesem Fall nur hin und wieder sonntagmorgens Dienst machen zu müssen, in Form von Lesungen, dem Vortrag einiger Gedichte oder eben mal einen Monolog vorzuspielen, zum Beispiel »Faust«. Schließlich war der Widerstand meines Vaters ermattet, und er trat in die SA ein. Der Grund war ein rein pragmatischer: Er besaß braune Stiefel und keine schwarzen. Nicht auszudenken, wenn er schwarze gehabt hätte und deswegen zur SS gegangen wäre!

      Eines Sonntags kam er triumphierend nach Hause. Er hatte Gedichte von Tucholsky und Heine vorgelesen, und niemand hatte es bemerkt.

      Nach dem Röhm-Putsch 1934 verlor die SA politisch an Bedeutung, und mein Vater stand wieder unter dem Druck der Theaterleitung, in die Partei einzutreten. Es gab kein Entkommen. Um seinen Protest gegen den erzwungenen Eintritt zum Ausdruck zu bringen, bezahlte er nie die Parteibeiträge.

      Nachdem er 1941 eingezogen worden war, tauchte bei uns nun ständig ein Blockwart auf, um die ausstehenden Parteibeiträge einzutreiben. »Wir sind nicht in der Partei.« Mit dieser Bemerkung schlug meine Mutter ihm jedes Mal die Tür vor der Nase zu. Doch eines Tages stellte er seinen Fuß dazwischen und drang in die Wohnung ein. Meine Mutter schrie: »Hausfriedensbruch!«, konnte aber nichts gegen ihn ausrichten. Der Blockwart, der uns sowieso schon auf dem Kieker hatte, schaute sich genüsslich bei uns um und vermisste im Wohnzimmer das Hitlerbild. Meine Mutter redete sich um Kopf und Kragen: »Sehen Sie, da hängt mein Bruder, er ist als Oberleutnant und Kompanieführer in der Ukraine gefallen. Wenn Ihr Herr Hitler tot ist, bin ich bereit, ihn ebenfalls aufzuhängen. Aber lebende Personen kommen bei mir nicht an die Wand. Wieso sind Sie eigentlich nicht Soldat? Mein Mann ist im Krieg, und Sie? Wieso sind Sie hier?« Ich wäre am liebsten im Erdboden versunken und hatte furchtbare Angst, dass der Blockwart nun böse Rache an uns nehmen würde. Doch er drohte uns nur damit, dass er bei seinem nächsten Besuch ein Hitlerbild an der Wand sehen wollte.

      Meine Mutter rannte daraufhin mit vor Aufregung roten Flecken am Hals zu unserer Nachbarin im Parterre. Frau Kleber war die Witwe eines SS-Offiziers, der in Frankreich von der Résistance getötet worden war. Sie hatte nicht nur ein Hitlerbild, sondern auch ein großes koloriertes Foto von Heinrich Himmler über ihrem Sofa hängen. Immer wenn meine Mutter Frau Kleber besuchte, fiel ihrerseits die Bemerkung: »Wie können Sie diesen grässlichen Kerl bloß ertragen?« Und jedes Mal antwortete Frau Kleber: »Wenn ich auf dem Sofa sitze, sehe ich ihn ja nicht.« Frau Kleber holte aus einer Schublade gleich mehrere Hitlerbilder. Mutters Wahl fiel auf ein Bild, das Hitler bis zur Hüfte in Parteiuniform zeigte, eine Hand wie Napoleon vor der Brust, auf dem Kopf eine Mütze. Es war das kleinste Bild.

      Wohin damit? Im Wohnzimmer, in einer Ecke, stand ein Kohleofen, der die ganze Wohnung beheizte. Links davon gab es eine Tür und rechts ebenfalls. Wenn beide Türen offenstanden, damit alle Räume Wärme bekamen, verschwand der Ofen hinter ihnen und mit ihm das Hitlerbild, das meine Mutter direkt neben dem Ofen platziert hatte.

      Krieg

      Der Zweite Weltkrieg weckt in mir fürchterliche Erinnerungen. Ständiger Fliegeralarm, Tod, Zerstörung, Flucht, Hunger, Hilflosigkeit und die immer präsente Angst. Die Menschen haben den Krieg unterschiedlich erlebt. Manche waren sogar kaum von ihm betroffen. Was Krieg mit Menschen macht, mit ihrer Seele, ist nicht vermittelbar, macht sprachlos. Zumindest mich. Es trennt die Menschen, es trennt sie von nachfolgenden Generationen, die so etwas nicht erlebt haben und nicht nachvollziehen können. Meine Ausdrucksmittel sind zu gering, um das Ausmaß des Erlebten zu schildern. Sobald ich es versuche, tauche ich ein in längst vergangene Situationen, bin sofort wieder im Geschehen und werde davon überwältigt.

      Jahrelang konnte ich vieles gut verdrängen, aber jetzt im Alter gelingt mir das immer weniger. Meine Erinnerungen scheinen ein Eigenleben zu führen und suchen mich immer häufiger heim. Das Ringen um Seelenfrieden, der einhergeht mit Unbeschwertheit, Gelassenheit und auch mit Leichtigkeit, habe ich verloren.

      Ich war neun Jahre alt, als der Krieg ausbrach. Zu dieser Zeit lebten wir in Koblenz. Mein Vater war dort in der Spielzeit 1939 am Stadttheater engagiert. Ich erinnere mich noch, dass er eines Tages empört nach Hause kam und zu meiner Mutter sagte: »Liselotte, beide Kon­fessionen haben die Waffen gesegnet, wir treten sofort aus der Kirche aus.« Von da an waren wir ohne eine Institution, aber Gott-gläubig.

      Schon bald wurde meinem Vater angeboten, als Oberspielleiter nach Krefeld zu gehen, für ihn ein großer Schritt nach vorne, denn Krefeld war ein ganzjähriges Theater. Mein Vater sagte zu, machte gleichzeitig aber einen fatalen Fehler. Aufgrund des Theaterwechsels war er drei Monate arbeitslos, hatte sich beim Wehrbezirkskommando aber nicht nach Krefeld umgemeldet und wurde nun genau in dieser Zeit von der Wehrmacht eingezogen. Angeblich wusste er nicht, dass man das tun musste. Der Krefelder Intendant bemühte sich zwar, meinen Vater aus dem Wehrmachtsdienst herauszulösen, der Koblenzer Intendant ebenfalls, aber es war aussichtslos.

      Daher wurde mein Vater bereits 1941 eingezogen. So bestürzt die Familie war, im Nachhinein erwies sich das sogar als glückliche Fügung, denn die Schauspieler, die erst 1944, nach der Schließung aller Theater, eingezogen wurden, waren das reinste Kanonenfutter. Mein Vater kam zur »Landmarine« und lernte dort Lastwagen fahren, mit denen die Schiffe versorgt wurden. Ich sah meinen Vater in den folgenden fünf Jahren