20Es sei, sagt F., selbstverständlich nichts als ein bösartiges gerücht, daß der Jonas „sültzratherschen ursprungs“ sei, wie von manch einem in Aibeln immer noch gemunkelt werde: „Das käme dann doch einem wunder gleich!“ Da sei schon eher eine jungfräuliche geburt – –: „Aber lassen wir das“, er wolle hier nicht ins blasphemische –: „Aus!“
21„Auch Gärten, die aneinander grenzten und ihre Obstbaumzweige einander zureichten und ihre Zwetschen, Kirschen, Pflaumen, Äpfel und Birnen über lebendige Hecken weg nachbarschaftlich austheilten, gab es da noch zu unserer Zeit [..]“ (Wilhelm Raabe, Die Akten des Vogelsangs, Berlin 1896, S. 10)
22Vgl. dazu erstens: „[..] / Hier saß ein Wurzelmann, der Otterhäute frißt; / Dort lag ein Charlatan, hier stund ein Glückstopf offen, / Und reizte manche Faust den reichsten Griff zu hoffen; / [..]“ (Johann Christian Günther, Träumende Gedanken bey Herrn Johann Christian Ernesti Philosophischer Doctorwürde. 1716. den 30. Apr., in: Johann Christian Günthers Gedichte. Sechste, verbesserte und geänderte Auflage, Breslau und Leipzig 1764, S. 559); oder zweitens: „[..] / Wir werffen das gelück in glückstopff immerhin, / Und können doch nicht draus errettung uns erwerben. / [..]“ (Christian Hoffmann von Hoffmannswaldau, Roselinde und Sophronille beklagen ihren einsamen Zustand, in: Herrn von Hoffmannswaldau und anderer Teutschen auserlesener und bißher ungedruckter Gedichte vierdter Theil, Leipzig 1710, S. 3)
23Hier habe er, weswegen er mit seinen gedanken wohl kurz abwesend gewesen und darum vom anderen, dem dritten buben nun nichts mitbekommen habe, sagt F., an den anfang des herrlichen Tristram Shandy denken müssen. „Schauen Sie, da steht’s. Und wenn Sie’s zitieren wollen: Laurence Sterne, Leben und Ansichten von Tristram Shandy, Gentleman. Band I, Zürich 1983, S. 9: ‚Ich wünschte, entweder mein Vater oder meine Mutter, oder fürwahr alle beide, denn von Rechts wegen oblag die Pflicht ihnen beiden zu gleichen Teilen, hätten bedacht, was sie da trieben, als sie mich zeugten ; hätten sie gebührend in Betracht gezogen, wie viel von dem abhing, was sie gerade taten ; –– daß es dabei nicht nur um die Hervorbringung eines vernünftigen Wesens ging, sondern‘, hören Sie zu: ‚daß womöglich die glückliche Bildung und Beschaffenheit seines Körpers‘ – undsoweiter, ja –“; ja, daran habe er gedacht, sagt F., und dabei wohl den anderen buben verpaßt.
24Tagebucheintrag Vitus Sültzrathers aus dem jahr 1969, datiert mit „Sonntag, 18. Mai“: „Jahrtag: Es ist noch kein Dichter vom Himmel gefallen – außer mir.“ (Isidor Sültzrather (Hg.), Vitus Sültzrather, Tagebücher 2, Klausen 2016, S. 67)
25„Aperiodisch, Kreszenz, komm aperiodisch!“, habe der Vitus mehr als einmal zu ihr gesagt; und als sie ihn gefragt habe, was das denn bedeuten solle und ob es vielleicht bedeuten solle, daß sie unregelmäßig zu ihm kommen solle, da habe er ihr nur immer geantwortet: „Nein, Kreszenz, das nicht; sondern komm, Kreszenz, wenn du kommen willst. Dann vielleicht oszilliere ich doch einmal vom unbewegten ins bewegte hinein – und verglüh.“ Immer habe er am schluß nach einer pause „und verglüh“ gesagt; und sie vermute nur, was er habe sagen wollen mit diesen sätzen, die sich in ihr hirn, die in ihr gedächtnis sich derart eingegraben hätten, wie es ihm – „im gegenteil“ – nicht gelungen sei, sich hinüberzugraben, „mit den bloßen händen, mein gott!“, unter der friedhofsmauer hinüber, vom kalberschen obstgarten aus, zu den toten nachbarn hinab. Das habe ihr die Rut erzählt, habe die Blaaser Kreszenz gesagt: „Mit der haben Sie ja auch geredet, hab ich gehört. Nicht?“ – Vgl. auch den tagebucheintrag Vitus Sültzrathers aus dem jahr 1999, datiert mit „Montag, 23. August“: „Granitstufen und eine Mauer verhindern die Vertreibung aus meinem Paradies; da nützen alle Äpfel nichts, die mir meine schöne Rut manchmal klaubt.“ (Isidor Sültzrather (Hg.), Vitus Sültzrather. Tagebücher 4, Klausen 2018, S. 17)
26Vgl. dazu die passage in Vitus Sültzrathers roman Wie ein Taubenschlag (Heidelberg 1973, S. 126 f.), wo er Isidor Harrer, jenen „Redner für jede Gelegenheit“, wie dieser für sich auf seiner visitenkarte wirbt, in dessen schließlich mit einem eklat endenden totenrede auf den befreundeten antiquar Simon A. Bendroth sprechen läßt: „Und so grub er, als er alt geworden und ‚zu nichts mehr nütze‘ war, wie er gerne und mit der verzweifelten Ironie jener aufs Abstellgleis Gestellten, jener ins Ausgedinge Verschobenen sagte über sich, in seiner Kindheit nach, in jenem vergessensten, unbekanntesten, verwunschensten Ort, in dem einmal niemand, niemand mehr gewesen sein wird, und erzählte davon, wie es einmal gewesen war; wie es einmal gewesen war, als er zu werden begann und seine Zukunft sich dehnte wie ein weites, ein noch unbeschriebenes, wie ein gelobtes Land. Aber da hörte ihm schon niemand mehr zu – keiner von euch!“
27Auf seine spätere nachfrage per e-mail, ob Vitus Sültzrather in diesem zusammenhang auch den begriff des „kindheitsreisenden“ verwendet habe, habe ihm, F., die Blaaser Kreszenz u. a. geantwortet: „[..] und es ist sowieso fraglich, ob der Vitus all das, was ich Ihnen damals im Wirtshaus Vögele als von ihm Gesagtes gesagt habe, genau so gesagt hat. (Meine Wörter purzeln manchmal etwas durcheinander, verzeihen Sie.) Denn mit unserem Körper verändert sich ja sicher auch alles, was in unserem Kopfe ist, in unserem Hirn. Und so altern halt auch unsere Erinnerungen und bekommen Runzeln und Altersflecken. Wie einem dann die Welt, wenn das Augenlicht schwächer wird, mehr und mehr verschwimmt, so wird einem dann wohl die Welt auch verschwimmen im Kopf. ‚Mit der Erinnerung ist es so eine Sache‘, hat zum Beispiel mein Großvater immer gesagt, bevor er wieder für eine Weile still gewesen ist, wenn die Großmutter ihn korrigiert hat im Erzählen. Sie hat ihn oft korrigiert, wahrscheinlich zu oft! Denn in den letzten Jahren hat er kaum mehr etwas erzählt; sogar dann nicht, wenn die Großmutter nicht dabei gewesen ist. Verlassen Sie sich nicht auf meinen Bericht – auch wenn ich immer versucht habe, Ihnen die Wahrheit zu sagen [..]“ (15.05.2018, 17:33)
28Vgl. folgende notiz Peter Handkes vom „28. Oktober 1982“: „Totschlag findet statt vor dem Tarockspiel, auf einem Umweg (L. ist zu früh dran)“ (Peter Handke, Phantasien der Wiederholung; Losers Geschichte; Die Schwellen, Notizbuch, 160 Seiten, 18.08.1982 bis 16.12.1982, S. 96; zit. nach: https://handkeonline.onb.ac.at/node/384)
29Er erinnere sich, sagt F., und er erwähne es hier, auch wenn es, wie er glaube, ja im grunde nicht von belang sei – aber wer wisse schon im rechten augenblick, was von belang; drum –, wie plötzlich ein satz in ihm aufgetaucht sei aus dem in all den jahren in ihm längst ins uferlose sich geweiteten wörtermeer: „Bei der ersten Kartenrunde, wo man mich endlich mittun ließ, ging unten auf der Straße ein Leichenzug vorüber.“ (Peter Handke, Der Chinese des Schmerzes, Frankfurt am Main 1983, S. 83; er habe nachgeforscht, sagt F.)
30Letzthin, so F., habe jemand auf ebay „Lora, die mumifizierte Katze des Dichters Vitus Sültzrather“ angeboten. Ob aber dies nun – er erinnere an den großen Francesco Petrarca, in dessen letztem wohnhaus in Arquà, das sich seit 1870 Arquà Petrarca nenne, man seit langem „die eingetrocknete Mumie der Katze des Sonettenschreibers in einer gläsernen Schachtel über dem Kamin“ bestaunen könne in der sogenannten „stanza della gatta“: „Da ricordare, inoltre, la nicchia in cui è custodita la mummia della gatta che si dice fosse appartenuta al Poeta“, so wirbt der ort, der auf den Euganeischen Hügeln liegt –, ob aber dies nun „endlich“ ein zeichen eines einsetzenden kults um Sültzrather