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Die kindheit sei eine chimäre, habe der Vitus gesagt (und die Blaaser Kreszenz habe gesagt: „Was auch immer das ist!“), und die erinnerung obendrauf. „Dann hören wir auf“, sagt F. – und zahlt. – Aber noch in derselben nacht sagte er schon Zenzi zu ihr.
10„PARADIES, n., ahd. paradîsi, paradîs, mhd. paradîse, paradîs, pardîs, [..] im älteren nhd. paradeise, paradeis (ei = mhd. î), [..] mit hebr. pardês aus dem zend. pairidaêza (umhegung, eingehegter garten) [..]“ (Deutsches Wörterbuch von Jacob und Wilhelm Grimm. 16 Bde. in 32 Teilbänden, Leipzig 1854–1961. Quellenverzeichnis Leipzig 1971, Bd. 13, Sp. 1453)
11Durs Grünbein, Die Jahre im Zoo, Berlin 2015, S. 38
12W. G. Sebald, Echos aus der Vergangenheit. Gespräch mit Piet de Moor (1992), in: „Auf ungeheuer dünnem Eis“. Gespräche 1971 bis 2001, Frankfurt am Main 2011, S. 72
13Daß der Vitus Sültzrather häufig mit sich selbst geredet habe, sei in Aibeln nicht der rede wert gewesen, habe man ihm gesagt, sagt F.; und doch habe manch eine, habe die eine oder der andere – etwas leiser werdend vielleicht und wie unauffällig um sich schauend, ob da keiner sei, der –, sich länger als notwendig im friedhof aufgehalten: an die einfriedungsmauer zum kalberschen obstgarten hin gelehnt –: „bloß um zu hören, was der so daherredet zu sich selbst“. Und hin und wieder habe man dann halt, wenn das wetter erschöpft gewesen sei und man die verstorbenen ausgeredet gehabt habe, über „dieses selbstgerede“ des Kalber Vitus geredet.
14Auch wenn in diesem an den friedhof grenzenden oder, wie die Rut einmal so schön gesagt habe, „sich anlehnenden“ garten die längste zeit auch ein zwetschken-, ein birnen-, ein marillen- und zwei kirschbäume gewesen seien und dazu an den rändern, wie die nachbarn es ihm erzählt hätten, sagt F., noch himbeersträucher, rote und weiße johannisbeersträucher, grüne und blaue stachelbeersträucher, so sei dieser garten, auch wenn die Kreszenz Jaist, die aufgrund des hofna-mens von allen selbstverständlich Blaaser Kreszenz genannt worden sei, weshalb auch er sie so nennen werde im folgenden – ein nachname nämlich, sagt F., sei ja in wahrheit nichts als eine „behördliche krücke“, ein wenigstens auf dem land ein leben lang als fremd empfundener „überwurf“ –, auch wenn also die Blaaser Kreszenz im „vögelegespräch“ immer vom kalberschen obstgarten geredet habe, so sei der, sagt F., aufgrund der offensichtlichen überzahl an apfelbäumen doch mehr ein apfel- als ein obstgarten gewesen. – „Nicht?“ (Vgl. dazu das Notizbuch Nº 5, Aibeln 1971, wo Vitus Sültzrather auf S. 26 schreibt: „Jonathan, Weißer Klarapfel, Gravensteiner, Berner Rosenapfel, James Grieve und Goldparmäne heißen meine ersten Berge, wie ich jetzt weiß. Dieses Apfelbaumgebirge als mein erstes Klettergebiet. Und die Kirschbäume darin, prahlend und prunkend: Große Schwarze Knorpelkirsche?, Kassins Frühe Herzkirsche? Dort am Rande der Zwetschkenbaum, immer noch namenlos, und der unbestiegene Marillenbaum am Haus.“)
15Und wie die Blaaser Kreszenz „quasi beiseitesprechend“ oder „wie in einer fußnote“ ergänzt habe, ergänzt F. später bzw. bei anderer gelegenheit seinen bericht über den bericht der Blaaser Kreszenz über das ihr von Vitus Sültzrather über seine kindheit berichtete, habe es andere beerenarten in den meisten aibelner gärten ja nicht gegeben. Denn stachelbeeren etwa habe damals kaum einer gekannt; und himbeeren oder erdbeeren seien bloß „in der freien natur“, also am rande von wegen, von wäldern, auf waldlichtungen oder auch bei steinmauern vorgekommen.
16„Ja, richtig, stimmt“, bestätigt F. die hier vermutete gewohnheit auf eine nachfrage hin, auch das treffen mit Rut Thinnebach habe ja im Wirtshaus Vögele stattgefunden – „Wie das hirn die gewissheiten verliert!“ –, und so etabliere es sich eigentlich mehr und mehr als der eigentliche ort sültzratherschen erinnerns: „Ja.“ Darüber werde auf der nächsten sültzrathertagung zu reden sein.
17Nicht aus versehen, sagt F., habe die Blaaser Kreszenz beim bestellen des nachtischs das den speisekartenbröseln fehlende n nicht ausgesprochen, „deutlich nicht ausgesprochen“, so F.: „sodaß der kellner es hätte hören müssen, hätte er ein gehör für sprache gehabt –: Er hat es nicht gehört“. – Aber vielleicht, „mein lieber“, habe die Blaaser Kreszenz, als sie nun, auf den nachtisch wartend, schon auf dem weg in den kalberschen obstgarten und also ins sültzrathersche erzählen gewesen seien, plötzlich gesagt – „und ich bin, muß ich gestehen, doch etwas irritiert und verlegen gewesen ob dieser umarmenden anrede, wie aus dem nichts“, sagt F., sie hätten ja erst am anfang einer noch „vollkommen unsondierten“ bekanntschaft gestanden –, aber vielleicht habe er, „ganz kellneranstand, ganz kellnerhöflichkeit“, auch nur so getan, als höre er das fehlende, das unausgesprochene nicht und denke nun über sie, was sie zuerst, als er sie nicht „höflich korrigiert“ und den bröseln im üblichen, die bestellung bestätigenden wiederholungsritual das fehlende n nicht wie nebenbei und ganz selbstverständlich oder als wäre es schon immer ausgesprochen, schon immer da gewesen, angehängt habe, über ihn gedacht habe – „was wir beide über den kellner gedacht haben!“ –, nämlich, daß das fehlen des n, diese „N-Abwesenheit“, wie sie, so F., in einer innsbrucker vorlesung über den dritten fall vom großen leipziger linguisten Johannes Erben, „wenn ich mich recht erinnere“, einmal genannt worden sei, kein bloßes speisekartenversehen, keine nicht nur „hierzulande übliche speisekartenschluderei“ sei – „ist und gewesen ist“, habe die Blaaser Kreszenz betont –, wie sie von ihnen während des studiums der speisekarte „apostrophiert“ worden sei und wovon sie, „uns zuerst ja nur so aus spaß, bald aber immer wettstreitender uns übertreffend, uns steigernd in einen längst über die ufer der wirklichkeiten geratenen ereiferungs- und ausschließlichkeitsfuror hinein“, als von einem aus schludrigkeit, aus schlampigkeit geborenen, appetithemmenden begrüßungsritual geredet hätten, dem einer – „nicht nur hierzulande, haben Sie gesagt“ – inständig ausgesetzt sei, auch dort, wo man es nicht erwartete, sondern vielmehr ein „krebsartig wucherndes ignorantes unvermögen“ im beherrschen der eigenen sprache. – Und bevor sie dann, endlich, wieder in den kalberschen obstgarten gekommen seien in ihrem gespräch –, als er davor die Blaaser Kreszenz, die ja schulisch nicht weit gekommen sei, wie er zu ihr nicht gesagt habe, noch gefragt habe, wie wohl dieses sprachengespür, diese „stupende sprachempfindlichkeit“ in ihr gewachsen sei, habe sie nur gesagt: „Es ist der Sültzrather gewesen, das war der Kalber Vitus, mein lieber.“
18Wie ihr leben wohl geworden wäre, hätte sie damals nicht den kalberschen obstgarten durchquert und hätte der Kalber Vitus sich nicht gerade aufgehalten darin in jenen paar augenblicken, habe die Blaaser Kreszenz ihre erzählung der sültzratherschen erzählung immer wieder unterbrochen, dabei ein ums andere mal denselben satz vors ende dieser lebensgeschichtlichen überlegungen stellend: „Daß sogar ein um ein eitzerl verzögerter gang aufs klo ein leben vollkommen umlenken und umleiten kann – oder ein blick aus dem fenster in einem anderen augenblick!“ Manchmal habe sie sich ja nicht mehr von der stelle „derrührt“; denn welche bewegung wohin oder welches stillestehn wie lange noch: veränderte ihr leben doch hinein in ein längeres glück, habe sie sich gefragt, sagt F., habe die Blaaser Kreszenz gesagt,