»Es ist nicht wahr.«
»Freilich ist's wahr, ich war doch noch ganz in der Nähe und habe es deutlich gesehen.«
Baumann leugnete und wurde grob, und es war ein erbitterter Streit, als der Professor in die Klasse trat. Er bemerkte gleich die Erregung seiner Schüler und hatte keine Freude daran. Als ihm Wilhelm nun Herrn Pfäfflings Brief reichte und er las, um was es sich handelte, erkundigte er sich gleich, ob noch mehrere vorgeladen seien, und als er hörte, dass Pfäffling der einzige sei, sagte er: »Dann möchte ich mir auch ausbitten, dass die anderen sich nicht darum kümmern. Es ist schon störend genug, dass einer vor Schluss der Stunde fort muss, gerade heute, wo die letzte griechische Arbeit vor Weihnachten gemacht wird. Wer sich sein Zeugnis nicht noch verderben will, der nehme seine Gedanken zusammen!«
So wurde äußerlich die Ruhe in der Klasse hergestellt, und es war nicht zu bemerken, wie dem einen Schüler das Herz klopfte vor innerer Entrüstung, dass er allein zur Strafe gezogen werden sollte, dem anderen vor Angst darüber, dass sein Betrug an den Tag kommen würde.
Kurz vor elf Uhr verließ Wilhelm auf einen leisen Wink des Professors das Zimmer. Unheimlich still kam es ihm vor auf den sonst so belebten Gängen und auf der breiten Treppe, die nicht für so ein einzelnes Bürschlein berechnet war, sondern für einen Trupp fröhlicher Kameraden. Heute begleitete ihn keiner, den sauern Gang auf die Polizei musste er ganz allein tun. Und nun betrat er das große Gebäude, in dem er ganz fremd war, hielt sein Vorladungsformular in der Hand und las: Erster Stock, Zimmer Nr. 12. Leute gingen hin und her, keiner kümmerte sich um ihn; vor mancher Zimmertüre standen Männer und Frauen und warteten. Nun war er bei Nr. 10, die übernächste Türe musste die richtige sein, Nr. l2. Vor diesem Zimmer stand ein Mann – und das war Herr Pfäffling.
»Vater!« rief Wilhelm, »o Vater!« und in diesem Ausruf klang die ganze Qual, die Angst und die ganze Wonne der Erlösung. Herr Pfäffling fasste ihn bei Hand. »Ich habe mich doch auf eine Viertelstunde los gemacht,« sagte er, »jetzt komm nur schnell herein, dass wir bald fertig werden!«
Im Zimmer Nr. 12 saß ein Polizeiamtmann.
Nach einigen Fragen und Antworten kam die Hauptsache zur Sprache: Wilhelm war angezeigt worden, weil er Herrn Sekretär Floßmann mit Schneeballen getroffen, darnach in frecher Weise gelacht und das Schneeballenwerfen in unmittelbarer Nähe fortgesetzt habe.
»So hat sich's verhalten, nicht wahr?« fragte der Amtmann.
»Getroffen habe ich einen Herrn aus Versehen,« sagte Wilhelm, »aber weiter nichts.« Nun mischte sich Herr Pfäffling ins Gespräch: »Du hast mir erzählt, dass du dich ausdrücklich entschuldigt habest und sofort heimgegangen seiest.« Da lächelte der Amtmann und sagte: »Damit sollte wohl der Vater besänftigt werden, in Wahrheit verhielt sich's aber, nach der Aussage des Herrn Sekretärs und des Schutzmanns ganz anders, und Sie werden begreifen, dass ich diesen mehr Glauben schenke als dem Angeklagten; es liegt auch gar nicht in der Art des Herrn Sekretär Floßmann, einen Jungen zur Anzeige zu bringen, der sich wegen eines Vergehens entschuldigt hat.«
»Ich darf wohl behaupten,« sagte Herr Pfäffling, »dass sowohl Frechheit als Lüge auch nicht im Wesen dieses Kindes liegen. Ich wäre sonst nicht mit ihm gekommen, sondern hätte mich seiner geschämt. Wäre es nicht möglich, den Herrn Sekretär oder den Schutzmann zu sprechen?«
»Gewiss,« sagte der Amtmann, »Herr Sekretär hat seine Kanzlei oben und der Schutzmann Schmidt war eben erst bei mir.« Er rief einen Polizeidiener. »Bitten Sie Herrn Sekretär Floßmann, einen Augenblick zu kommen und rufen Sie den Schutzmann Schmidt herein.«
»Wir machen zwar gewöhnlich nicht so viel Umstände, wenn es sich um solch eine Bubengeschichte handelt,« sagte der Amtmann, »aber wenn Sie es wünschen, können Sie von den beiden selbst hören, wie der Verlauf der Sache war.«
Ein paar Minuten später trat der Sekretär Floßmann und gleich darnach der Schutzmann ein. »Da ist der Junge,« sagte der Amtmann, »der wegen der Schneeballengeschichte aufgeschrieben wurde,« aber ehe der Beamte noch weiter sprechen konnte, fiel ihm Herr Sekretär Floßmann ins Wort, indem er sich an den Schutzmann wandte: »Aber warum haben Sie denn gerade diesen Jungen aufgeschrieben, den einzigen, der sofort aufgehört hat zu werfen, und der sich in aller Form entschuldigt hat, der mir selbst noch den Schnee abgeschüttelt hat?« und indem er auf Wilhelm zuging, sagte er ganz vertraulich zu ihm: »Wir zwei sind in aller Freundschaft auseinandergegangen, nicht wahr, dich wollte ich nicht anzeigen.« Da wandte sich der Amtmann ärgerlich an den Schutzmann: »Haben Sie Ihre Sache wieder einmal so dumm wie möglich gemacht?« Der rechtfertigte sich: »Das ist nicht der Wilhelm Pfäffling, den ich aufgeschrieben habe. Der meinige hat einen dicken Kopf und ein rotes Gesicht. Sag' selbst, habe ich dich aufgeschrieben?«
»Nein, aber es heißt keiner Wilhelm Pfäffling außer mir.«
»Oh,« sagte der Amtmann, »da kommt es auf eine falsche Namensangabe hinaus, das muss ein frecher Kamerad sein. Kannst du dir denken, wer dir den Streich gespielt hat?« fragte er Wilhelm. Der besann sich nicht lange. »Jawohl,« sagte er, »es ist nur ein solcher Gauner in unserer Klasse.«
»Wie heißt er?« Da sah Wilhelm seinen Vater an und sagte zögernd: »Ich kann ihn doch nicht angeben?«
»Nein,« sagte Herr Pfäffling, »du weißt es ja doch nicht gewiss, und deine Menschenkenntnis ist nicht groß.«
»Den Schlingel finde ich schon selbst heraus, den erkenne ich wieder,« sagte der Schutzmann, »ich fasse ihn ab um 12 Uhr, wenn die Schule aus ist.«
Nun wandte sich der Amtmann an Herrn Pfäffling: »Ich bedaure das Versehen,« sagte er, und Wilhelm entließ er mit den Worten: »Du kannst nun gehen, aber halte dich an bessere Kameraden und pass auf mit dem Schneeballenwerfen, in den Straßen ist das verboten, dazu habt ihr euren Schulhof!«
Vater und Sohn verließen miteinander das Polizeigebäude. »O Vater,« rief Wilhelm, sobald sie allein waren, »wie bin ich so froh, dass du gekommen bist! Mir allein hätte der Polizeiamtmann nicht geglaubt.«
»Du hast dich auch nicht ordentlich verteidigt, hast ja nicht einmal erzählt, wie der Verlauf war. Bei uns zu Hause hast du deine Sache viel besser vorgebracht.«
»Mir geht das oft so, Vater, wenn ich spüre, dass man mir doch nicht glauben wird, dann mag ich gar nichts zu meiner Verteidigung sagen. Oft möchte ich etwas erzählen oder erklären, wie es gemeint war, dann denke ich: ihr haltet das doch nur für Schwindel und Ausreden, und dann schweige ich lieber.«
»Ich kenne das, Wilhelm, es kommt daher, weil es so wenig Menschen genau mit der Wahrheit nehmen, dann trauen sie auch den andern keine strenge Wahrhaftigkeit zu. Aber da darf man sich nicht einschüchtern lassen. Wer recht wahrhaftig ist, darf alles sagen und Glauben dafür fordern. Halte du es so, und wird dir etwas angezweifelt, so sage du ruhig zu demjenigen: ›Habe ich dich schon einmal angelogen?‹ Aber freilich musst du sicher sein, dass er darauf ›nein‹ sagt.«
Die Beiden waren inzwischen dem Marktplatz nahe gekommen, wo ihre Wege auseinandergingen.
»War es dir recht ungeschickt, Vater, aus der Probe wegzukommen?« fragte Wilhelm. »Höllisch ungeschickt!« sagte Herr Pfäffling, »ich mochte den Grund nicht angeben, ich sagte nur schnell den Nächstsitzenden etwas von Familienverhältnissen und lief davon; wer weiß, was sie sich gedacht haben. Der junge Lehrer wird mich inzwischen vertreten haben, so gut er es eben versteht.«
»Ich danke dir, Vater,« sagte Wilhelm, als er sich trennte, und ganz gegen die Gewohnheit der Familie Pfäffling griff er rasch nach des Vaters Hand, küsste sie und lief davon.
Als Herr Pfäffling zu der musikalischen Jugend zurückkam, sah er viele freundlich lächelnde Gesichter und dachte sich: Die haben es doch schon erfahren, dass du mit deinem Wilhelm auf der Polizei warst, es bleibt nichts verborgen. »Darf man gratulieren?« fragte ihn leise eine Bekannte, als er nahe an ihr vorbeiging. »Jawohl,« sagte er, »es ist gut vorübergegangen.« Nach ein paar Minuten war er mit vollem Eifer bei