Abb. 3: Vereinfachte Wiedergabe des Modells von Howard und Sheth (Eigene Darstellung in Anlehnung an Howard und Sheth, 1969, S. 30)
Ein weiteres wichtiges Modell zur Erklärung des Käuferverhaltens bzw. der Kaufentscheidung wurde von Jim Bettman 1974 vorgelegt. Im Zentrum dieses Modells standen sogenannte Entscheidungsnetze (»Decision Nets«). Zur Identifikation der mit dem Entscheidungsnetz assoziierten intervenierenden Variablen bediente sich Bettman des Instruments der begleitenden Beobachtung. Hierbei geht ein Interviewer mit dem Kunden zusammen einkaufen und protokolliert die Dinge, die der Kunde im Moment jeweils erlebt und bewusst wahrnimmt. Die Idee dieses Ansatzes besteht somit darin, die in der Black Box ablaufenden Prozesse möglichst zeitnah und spontan zu erfassen, auch wenn sie nach wie vor kognitiv »gefiltert« und expliziert werden müssen.
Aufbauend auf der Entwicklung dieser für die heutige Konsumentenverhaltensforschung noch wichtigen Modelle hat in den letzten Jahren der technische Fortschritt insbesondere im medizinisch-radiologischen Bereich dazu geführt, dass die im Kundenkopf ablaufenden Prozesse mehr oder weniger direkt erfasst werden können (Zaltman 2000). Zwar könnte grundsätzlich der gesamte Organismus des Kunden von Relevanz sein; gleichwohl fokussieren die meisten Wissenschaftler die im Gehirn ablaufenden Prozesse, da man wohl zurecht davon ausgeht, dass ein Großteil des menschlichen Verhaltens in diesem zentralen Organ abläuft. Die wohl nicht ganz unberechtigte Hoffnung der entsprechenden ForscherInnen ist dabei, dass ein besseres Verständnis des menschlichen Gehirns zu einem besseren Verständnis und einer besseren Vorhersage des menschlichen Verhaltens und damit auch des Kauf- und Konsumentenverhaltens führen könnte (Kenning, Plassmann 2005). Diese Hoffnung manifestiert sich derzeit in der sogenannten Brain-as-predictor-Hypothese. Diese Hypothese wurde erstmalig von Berkman und Falk (2012) explizit verwendet. Die Idee dieser Hypothese wird in dem folgenden Zitat deutlich:
»One goal of social science in general, and of psychology in particular, is to understand and predict human behavior. Psychologists have traditionally used self-report measures and performance on laboratory tasks to achieve this end. However, these measures are limited in their ability to predict behavior in certain contexts. We argue that current neuroscientific knowledge has reached a point where it can complement other existing psychological measures in predicting behavior and other important outcomes.« (Berkman, Falk 2012, S. 45).
Der Versuch, biologische Variablen auch in die Käufer- und Konsumentenverhaltensforschung zu integrieren ist dabei nicht grundsätzlich neu. Tatsächlich haben einige prominente Fachvertreter frühzeitig auf die Bedeutsamkeit der Neurowissenschaften und die entsprechenden methodischen Möglichkeiten hingewiesen (Kroeber-Riel 1979). Auch wurden verschiedene apparative Verfahren verwendet, die heute noch wichtig sind (z. B. die EEG; Krugman 1971). Dennoch folgte dann eine Zeit, die Saad (2008) vor einigen Jahren treffenderweise als »collective amnesia of marketing scholars regarding consumers’ biological and evolutionary roots« bezeichnete. Diese Phase scheint heute im Kontext der Entwicklungen in den Bereichen der Neuroeconomics (Camerer et al. 2005) und Consumer Neuroscience (vgl. Kenning/Plassmann/Ahlert 2007; Levallois 2019) überwunden zu sein, denn in diesem Gebieten geht es (wieder) um die Integration neurowissenschaftlicher Methoden, Theorien und Erkenntnisse in die wirtschaftswissenschaftliche Forschung. In diesem Zusammenhang werden zunehmend auch absatzwirtschaftliche Fragen fokussiert und der – etwas irreführende – Begriff »Neuromarketing« verwendet (Lewis, Bridger 2005; Levallois 2019).
Eine der ersten wissenschaftlichen und methodische besonders bedeutsamen Studien im Rahmen der geschilderten Entwicklung war das von Alan Sanfey im Jahre 2003 durchgeführte Experiment zu den neuralen Prozessen, die mit Entscheidungen im Ultimatum-Game verbunden sind (Güth et al. 1982). Bereits diese Studie zeigte, dass die Neuroökonomik einen Beitrag dazu leisten könnte, ökonomisch relevantes Verhalten besser zu verstehen. Diese Studie, die bis dato mehr als 3500mal zitiert wurde, soll daher im Folgenden kurz beschrieben werden.
Im Kern geht es im Ultimatum-Game um folgende Problemstellung: Zwei Akteure werden gebeten, einen durch den Spielleiter zur Verfügung gestellten Betrag einvernehmlich untereinander aufzuteilen. Dabei erhält der erste Akteur (A) den Auftrag, einen Verteilungsvorschlag zu machen. Der zweite Akteur (B) hat dann die Möglichkeit, diesen Vorschlag zu akzeptieren oder abzulehnen. Nur wenn B akzeptiert, bekommen beide den Betrag aber auch tatsächlich ausgezahlt. Lehnt B hingegen ab, bekommen A und B nichts. Wie sollte sich A verhalten? Sein Erfolg hängt nicht nur von seiner Entscheidung, sondern auch von B‘s Reaktion darauf ab!
Folgt man der Axiomatik der klassischen ökonomischen Theorie, sollte A sich rational in dem Sinne verhalten, dass er versucht, seinen Anteil zu maximieren. Gleichzeitig sollte B versuchen, jeden Betrag »größer null« zu akzeptieren, da dies aus seiner isolierten Sicht besser wäre als nichts zu bekommen. Ein, im Sinne der ökonomischen Maxime »Mehr Geld ist besser als weniger Geld«, rationaler Verteilungsvorschlag von A wäre somit 9,99 Euro für sich zu behalten und B einen Cent anzubieten. Tatsächlich findet man in der Realität aber kaum solche Vorschläge und wenn, dann werden sie von B meist empört abgelehnt. Warum?
Nun, neuere Ansätze erklären dieses scheinbar irrationale Verhalten damit, dass Menschen eine implizite Präferenz für Fairness haben und deswegen am häufigsten eine als fair empfundene Aufteilung von 5 Euro für beide Spieler vorschlagen. Doch wie kommt man dieser impliziten Präferenz auf die Spur? Wie kann man sie beobachten und ihre Wirkungen messen? Um diese Fragen zu beantworten, liess Alan Sanfey Versuchspersonen im MR-Scanner das Ultimatum-Game spielen. Tatsächlich konnte er feststellen, dass immer dann, wenn die Spieler mit unfairen Angeboten konfrontiert wurden und diese ablehnten, ein anderer neuraler Prozess ablief als in den als fair empfundenen Situationen. Eine wesentliche Rolle für die Verarbeitung unfairer Angebote spielte dabei die Inselregion im Gehirn (Sanfey et al.2003).
Aus der Studie von Sanfey et al. (2003) ergaben sich vielfältige, für die weitere Entwicklung der neuroökonomischen Forschung und der Consumer Neuroscience relevante Aspekte. Diese können grob in eine methodische und eine inhaltliche Kategorie unterteilt werden:
• Methodisch zeigte die Untersuchung von Sanfey et al. (2003) zunächst einmal, dass es mit Hilfe der funktionellen Magnet-Resonanz-Tomographie (fMRT bzw. fMRI) möglich ist, ökonomisch relevante Prozesse abzubilden. Dies war bis dahin noch nicht versucht worden. Nun aber zeigte die Studie, dass die mit der fMRI zu erreichende bildliche und zeitliche Auflösung ausreichend ist, ökonomisch relevante Entscheidungsprozesse zu erfassen. Darüber hinaus wurde deutlich, dass die zu bestimmten neuralen Strukturen vorliegenden neurowissenschaftlichen Befunde ausreichend sind, um eine sinnvolle Würdigung der Magnet-Resonanz-Befunde zu ermöglichen.Schließlich wurde drittens durch die Studie von Sanfey et al. deutlich, dass die fMRI eine Simultanität zwischen dem Treffen einer Entscheidung und ihrer apparativen Beobachtung ermöglicht, sodass auf eine nachträgliche (Re-)Konstruktion der mit dem Verhalten assoziierten Prozesse auf verbaler Ebene verzichtet werden kann.
• Inhaltlich zeigte die Studie von Sanfey et al. (2003), dass Menschen offensichtlich mehrere Entscheidungsprozesse in ein und derselben Entscheidungssituation verwenden können. Dies wurde von einigen Forschern als empirischer Beleg für die Gültigkeit der in der Literatur bereits häufiger vorgeschlagenen Dual-Process-Modelle gewertet (vgl. für viele Strack, Deutsch 2004; Camerer et al. 2005). Darüber hinaus zeigte die Studie, dass unbewusste Emotionen, die mit der Wahrnehmung eines bestimmten Stimulus verbunden sind, einen wesentlichen Einfluss auf den Entscheidungsprozess haben und diesen rahmen (framen») können. Insofern gab die Studie auch einen Hinweis auf die mit dem Framing-Effekt verbundenen, neuralen Mechanismen (