Anonymer Ökonom
In den letzten Jahren hat die akademische Forschung eine erhebliche Bedeutungszunahme von Arbeiten erfahren, die an der Schnittstelle zwischen den Neurowissenschaften, der Psychologie und der Ökonomik liegen (Foxall et al. 1998). Die Ergebnisse dieser Forschungsarbeiten waren eingebettet in die Entdeckung und Entwicklung neuer Forschungsgebiete, die heute als Consumer Neuroscience, Decision Neuroscience, Neuroeconomics, Neuroökonomik und sogar als Neuromarketing bezeichnet werden (Shiv et al. 2005, Ramsoy, 2015). Das gemeinsame Ziel dieser Arbeiten besteht darin, neurowissenschaftliche Erkenntnisse, Theorien, Konzepte und – wohl vor allem – Methoden in die jeweilige wirtschaftswissenschaftliche Subdisziplin zu integrieren (Kenning, Plassmann 2005). Trotz ihrer zunehmenden Bedeutung fehlt es aber bis heute an wissenschaftlich fundierten, monographischen Lehrbüchern, welche eine systematische Integration dieser neuen Entwicklungen in die zumeist wirtschaftswissenschaftlichen Curricula und damit einen Einstieg in das Thema erlauben würden.
Vor diesem Hintergrund ist es das Ziel des vorliegenden Buches, seiner primären Zielgruppe, nämlich den Studierenden und dem akademischen Nachwuchs einen Überblick über den aktuellen Stand sowie die Entwicklungen im Forschungsfeld »Consumer Neuroscience« zu geben. Dies geschieht primär aus einer wissenschaftlichen und deskriptiven Perspektive. Dabei geht es darum, den Leser in die Lage zu versetzen, sich nach der Lektüre dieses Buches weitgehend eigenständig ein Bild darüber zu machen, in welchen Situationen die Consumer Neuroscience einen sinnvollen Beitrag zur Lösung praktisch-normativer Fragestellungen leisten kann und wann klassische Ansätze und Konzepte zweckmäßig sind (Fugate 2007; Lee et al. 2007; Linn 2018). Etwas verkürzt dargestellt ist das Ziel des Buches, eine Beitrag dazu zu leisten, eine neue theoretische Perspektive in die Konsumenten- und Käuferverhaltensforschung und -lehre systematisch zu integrieren und dadurch wissenschaftliches Arbeiten in diesem Feld zu ermöglichen.
Die Notwendigkeit einer systematischen Integration besteht deswegen, weil menschliches Verhalten wohl weitestgehend auf biologischen Prozessen basiert. Da es nämlich wohl keine körperlosen, menschlichen Entscheidungen gibt, ist es nicht unwahrscheinlich, dass ein fortschreitendes Verständnis, der dem menschlichen Verhalten zugrunde liegenden Biologie,eine Möglichkeit bieten könnte, menschliches Verhalten – und damit eben auch Konsumenten- und Käuferverhalten – besser zu verstehen (Eibl-Eibesfeldt 1997) und vorhersagen zu können. Da entsprechend dieser Brain-as-predictor-Hypothese davon ausgegangen wird, dass neurale Prozesse und bestimmte Hirnstrukturen hierbei eine wesentliche Rolle spielen (Berkman, Falk 2012), stehen diese Prozesse und Strukturen hier im Zentrum.
Im Gegensatz dazu wurde das Kunden-, Käufer- und Konsumentenverhalten in den letzten Jahren primär aus einer psychologischen Perspektive untersucht. In diesem Zusammenhang wurde das menschliche Gehirn metaphorisch als eine Black Box betrachtet. Die in ihm ablaufenden Prozesse wurden theoretisch rekonstruiert (Howard, Sheth 1969) und indirekt (z. B. durch Befragungen) erfasst. Heute erlauben hingegen moderne Techniken und Verfahren aus dem Bereich der Radiologie oder der Biologie einen direkten Blick in das lebende Gehirn (Kenning et al. 2007). Dies gilt insbesondere für die sog. bildgebenden Verfahren (Plassmann et al. 2007a; Riedl et al. 2010b, Linn 2018), die demzufolge in diesem Buch im vierten Kapitel eine besondere Würdigung erfahren werden.
Um das genannte, integrative Ziel zu erreichen, ist das vorliegende Buch wie folgt aufgebaut: Zunächst wird in diesem Kapitel die bisherige Entwicklung der Consumer Neuroscience und damit verbunden der frühen neuroökonomischen Forschung skizziert. Darüber hinaus werden die für ein erstes Verständnis der Materie wichtigsten begrifflichen Grundlagen gelegt. Darauf aufbauend werden die wesentlichsten neuralen Strukturen und anatomischen Grundlagen skizziert, um dem Leser rasch eine erste Orientierung im Gehirn zu ermöglichen. Dem schließt sich eine Nennung, Erläuterung und Diskussion der wichtigsten Funktionen des Gehirns an. Darauf aufbauend werden die neuroanatomischen Grundlagen einiger zentraler psychischer Phänomene gewürdigt. Anschließend werden die aus Sicht des Verfassers für das Themengebiet Consumer Neuroscience zentralen Methoden, Theorien und Konzepte erläutert. Danach werden im sechsten Kapitel einige ausgewählte empirische Ergebnisse diskutiert. Diese werden in drei Felder unterteilt: Individual Consumer Neuroscience, Social Consumer Neuroscience, sowie Commercial Consumer Neuroscience. Diese Trennung orientiert sich an der in den Wirtschaftswissenschaften bekannten Unterscheidung in Entscheidungs- und Spieltheorie sowie an dem Zweck, die Forschungsergebnisse betriebs- bzw. absatzwirtschaftlich zu nutzen.
So geht es im Bereich der Individual Consumer Neuroscience zunächst noch um (isolierte) Entscheidungen einzelner Akteure, deren Nutzenniveau nicht vom Verhalten anderer Akteure abhängt. Typische Forschungsgegenstände wären in diesem Bereich die mit bekannten Phänomenen wie dem Framing- oder Anchoring-Effekt verbundenen neuralen Mechanismen. Im Gegensatz dazu ist das Merkmal der Social Consumer Neuroscience, dass das Verhalten anderer Akteure Teil der eigenen Nutzenfunktion des Kunden wird und diese beeinflusst. Typische Beispiele hierfür wären auf Vertrauen und Reziprozität angelegte Austauschprozesse (z. B. in sozialen Netzwerken wie facebook oder digitalen Plattformen wie ebay).
Im dritten Feld, der Commercial Neuroscience, wird hingegen von der Perspektive des Kunden bzw. der Kundengruppe auf die Perspektive des Unternehmens gewechselt. Mithin steht hier die betriebliche Nutzung neurowissenschaftlicher Theorien, Methoden und Erkenntnisse im Vordergrund (Levallois et al. 2019). In diesem Forschungsfeld wird z. B. entsprechend der Struktur der Marketing-Instrumentalbereiche diskutiert, welche neuralen Mechanismen mit der Wahrnehmung und Verarbeitung der Marketing-Instrumente assoziiert sind. Eine besondere Bedeutung haben hierbei Studien, die sich mit dem Instrument der Marke befassen. Im letzten Kapitel wird schließlich eine kurze Zusammenfassung vorgenommen. Zudem werden einige Forschungsgrenzen aus wissenschaftstheoretischer Perspektive genannt sowie ein Ausblick auf die weitere mögliche Entwicklung gegeben.
Abb. 1: Überblick über den Aufbau des Buches
Mit Blick auf den Lehrbuchcharakter des Buches werden am Ende der jeweiligen Kapitel einige Wiederholungsfragen gestellt, die dem Leser eine Reflexion des Kapitels erlauben. Zudem werden einige zentrale Begriffe und Konzepte in einem Glossar noch einmal zusammengestellt.
Dem Titel des Buches entsprechend stehen im Zentrum der Ausführungen Aspekte des Konsumenten- und Käuferverhaltens. Dies bedeutet aber keineswegs, dass die genannten Methoden, Theorien und Konzepte ausschließlich für dieses Verhalten relevant seien. Das Gehirn beschränkt sich ja nicht darauf. Vielmehr haben viele Passagen des Buches einen durchaus generellen Anspruch. Dies gilt insbesondere für die eher neurowissenschaftlich geprägten Kapitel und Absätze.
2 Consumer Neuroscience: Was ist es und wofür braucht man es?
2.1 Was ist es? Die Entstehung der Consumer Neuroscience
Die Entwicklung der Consumer Neuroscience resultiert aus einer Evolution der Konsumenten- und Käuferverhaltensforschung, deren Entstehungsgeschichte wiederum eng verbunden ist mit der Entwicklung der Wirtschaftswissenschaften und hier insbesondere derjenigen des Marketings. Etwa zu Beginn des 19. Jahrhunderts stellten Ökonomen erstmalig fest, dass das Verhalten der Konsumenten mit Hilfe der bis dahin dominierenden Kaufkraft-Modelle nicht ausreichend erklärt werden konnte. Parallel hierzu gewannen ergänzende psychologische Modelle und Konstrukte wie Einstellungen oder Motive an Bedeutung (Meffert, Burmann, Kirchgeorg 2011, S. 36). Das Konsumentenverhalten wurde in diesem Zusammenhang immer mehr als das Ergebnis eines komplexen Zusammenspiels verschiedener Variablen erkannt. Die wichtigsten Kategorien bildeten dabei die ökonomischen (z. B. der Preis eines Gutes) sowie die psychologischen Variablen (z. B. das Image der Marke; vgl. Gutjahr 2011). Bereits damals war aber erkennbar, dass eine rein auf ökonomischen und psychologischen Modellen basierende Theorie zu ungenau ist und daher eine interdisziplinäre Ausrichtung der Konsumentenverhaltensforschung sinnvoll sein könnte, die z. B. durch eine Ergänzung soziologischer Aspekte (man denke z. B. an Rollenkonzepte oder die Systemtheorie) geschehen sollte.
Gleichwohl dominierte in der Gründungsphase des Marketings eine ökonomische Sichtweise, die primär distributionspolitische Aspekte berücksichtigte