»Du etwa nicht?«
Sie schluckte unbehaglich. »Dass es solche Ausmaße annimmt, habe ich nicht erwartet. Wie kann jemand seinen eigenen Sohn so grausam behandeln?«
»Mike hatte gute Gründe, sich von seiner Familie fernzuhalten, Brianna. Für eine Frau, die jahrelang in einer der übelsten Ecken der Bronx gelebt hat, bist du erstaunlich naiv.«
»Das ist krank, Luke!«
»Natürlich ist es das.«
»Der Mann gehört in eine Therapie.«
»Und da ist sie schon wieder, diese entzückende Naivität.« Spöttisch sah Luke sie von der Seite an. »Männer wie Joseph Cavenaugh machen keine Therapie. Die prügeln so lange weiter, bis sie im Jenseits landen. Entweder trifft ihn irgendwann der Schlag oder er säuft sich zugrunde.«
»Wenn Mike ihn nicht vorher umbringt.« Brianna umfasste das Lenkrad fester und gab Gas. »Was denkst du, hat er vor?«
»Wenn ich raten müsste, würde ich sagen, er wird Kleinholz aus seinem Dad machen.«
»Glaubst du, er wird ihn …?«
»Verdient hätte er es.«
Brianna nickte grimmig. »Ja, aber Michael nicht.«
Ж Ж Ж
Mit quietschenden Reifen brachte Michael die silberne Corvette einen halben Block von seinem Elternhaus entfernt zum Stehen. Vor dem Haus parkte ein Polizeiwagen, und eine Traube von Nachbarn hatte sich um den Eingang versammelt.
Als er aus dem Auto stieg, hörte er Briannas Wagen, der dicht hinter ihm hielt. Türen klappten, Schritte kamen näher.
Im ersten Impuls wollte er blindlings auf das Haus zusteuern, doch noch ehe er einen Schritt tun konnte, hatte Brianna ihn am Arm gefasst. Unwirsch versuchte er, sie abzuschütteln, doch sie hielt ihn hartnäckig fest.
»Bri!« Verärgert starrte er auf ihre kleine, grazile Gestalt hinab. Für ihre eins zweiundsechzig besaß sie enorme Kraft.
Sie schüttelte entschlossen den Kopf, sodass ihr gerade schulterlanges, glattes hellbraunes Haar hin und her flog. »Bleib hier. Michael. Du siehst doch, was da los ist. Willst du am Ende noch der Polizei in die Arme laufen?«
»Ich muss zu Mom. Der Himmel weiß, was Dad mit ihr angestellt hat.«
»Und wie willst du dich ausweisen, wenn einer der Cops dich danach fragt?« Luke tauchte auf der anderen Seite auf und legte ihm eine Hand auf die Schulter. »Ich sehe nach deiner Mom.«
»Nein, lass mich gehen. Mich kennt sie bereits.« Brianna ließ Michael los, warf aber Luke einen eindeutigen Blick zu. »Halt ihn hier fest.«
Während Brianna mit entschlossenen Schritten auf Michaels Elternhaus zuging, beobachteten er und Luke, wie zwei Polizisten Joseph Cavenaugh aus dem Haus zum Polizeifahrzeug führten. Seine Miene war düster, aber einigermaßen beherrscht. Für einen kurzen Moment, bevor er in den Wagen einstieg, wanderte sein Blick über das Autodach hinweg zu Michael, der instinktiv erstarrte.
»Gut, sie nehmen ihn mit.« Luke lächelte grimmig. »In einer Zelle kann er sich gebührend von seinem Tobsuchtsanfall erholen.«
Michael schnaubte nur. »Was glaubst du, wie oft das in den vergangenen dreißig Jahren vorgekommen ist? Ich habe zu zählen aufgehört.« In ihm drängte alles, zum Haus zu gehen, doch Lukes Hand auf seiner Schulter wurde immer schwerer.
»Bleib hier. Du kannst im Augenblick nichts tun außer dich selbst in Teufels Küche bringen.«
Brianna war inzwischen an einen Officer herangetreten und sprach lächelnd mit ihm, dann begab sie sich auf sein Nicken hin ins Haus. Die Tür schloss sich hinter ihr, die Polizei rückte ab, der Großteil der gaffenden Nachbarn zerstreute sich wieder.
Als das Polizeiauto an Michael und Luke vorbeifuhr, trafen sich Michaels und Josephs Blicke erneut. Bittere Galle stieg in Michaels Kehle hoch, als er den kalten, von tiefsitzendem Zorn erfüllten Ausdruck in den Augen seines Vaters sah.
»Komm, ich schätze, die Luft ist jetzt rein.« Auffordernd gab Luke ihm einen leichten Stoß in den Rücken und ging voran zum Haus.
Michael hatte ihn mit wenigen Schritten überholt und riss im nächsten Moment die Haustür auf.
»Danke, Brianna, aber das geht schon«, hörte er seine Mutter aus dem Wohnzimmer. »Ich muss nur eben … Hier ist so eine Unordnung. Ich räume rasch ein bisschen auf.«
Als er den Raum betrat, war Helen Cavenaugh gerade dabei, eine umgestürzte Lampe zurück auf ihren Platz neben dem Couchtisch zu stellen. Brianna sammelte die Scherben einer zu Bruch gegangenen Vase vom Boden auf.
»Michael!« Als Helen ihn sah, hellte sich ihre gequälte Miene schlagartig auf. Sie ließ Lampe Lampe sein und eilte auf ihn zu. »Es ist alles in Ordnung, wirklich. Ich … Wie geht es Daniel? Ist er bei dir?« Nervös zupfte sie an ihrem blonden Haar herum, das ihr irgendwann an diesem Abend wohl einmal ordentlich frisiert bis auf die Schultern gefallen war. Jetzt war es zerzaust und auf ihrer Wange prangte ein hässlicher Bluterguss.
Wortlos zog Michael seine Mutter an sich und prompt klammerte sie sich an ihm fest und drückte ihr Gesicht fest gegen seine Brust.
»Ich habe ihn geschlagen, Michael. Mit deinem Hockeyschläger. Du weißt schon, der steht nämlich immer noch drüben im Wandschrank. Ich wusste nicht, was ich sonst tun soll. Er war so schrecklich wütend. Silvester ist immer eine schwierige Zeit …«
»Und Weihnachten und alle anderen verdammten Feiertage.« Er unterdrückte die erneut aufwallende Wut. »Und jeder Scheißtag dazwischen.«
»Ist Daniel bei dir? Ich hab ihm gesagt, er soll zu dir fahren. Und dann hat jemand von den Nachbarn die Polizei gerufen …«
»Du hast ihn mit dem Auto zu mir geschickt?« Michael erinnerte sich dunkel, Daniels Wagen in der Nähe seines Lofts parken gesehen zu haben. »Es ist ein Wunder, dass er einen Schritt vor den anderen setzen konnte.«
»O mein Gott …«
Er verfluchte sich innerlich. »Es geht ihm gut, Mom. Matt kümmert sich um ihn.«
»Wer ist Matt?« Halb erleichtert, halb misstrauisch hob Helen den Kopf.
»Mein Bruder.« Brianna trat neben Helen und tätschelte ihr etwas unbeholfen den Rücken. »Keine Sorge, er kennt sich mit solchen Verletzungen aus.« An ihrem Tonfall war zu erkennen, dass sie nicht nur die körperlichen Blessuren meinte.
Helen sah sie mit einem dankbaren Lächeln an. »Ich will zu ihm. Geht das?« Fragend hob sie den Kopf.
»Nein.« Michael schüttelte den Kopf.
»Bitte!«
»Mom …«
»Michael!« Brianna ließ von Helen ab und zog ihn ein Stück beiseite. »Natürlich kommt sie mit uns. Du willst sie doch wohl nicht heute Nacht in diesem Chaos alleine lassen?«
»Bri, mal abgesehen davon, dass es bei mir alles andere als sicher ist, habe ich nicht einmal einen Platz, wo ich sie unterbringen kann.«
»Ganz klar, du brauchst ein Gästezimmer.«
»Was?« Irritiert runzelte er die Stirn.
Brianna winkte ab. »Komm schon, so hartherzig bist du nicht. Sie kann in deinem Bett schlafen und du auf dem Sessel oder auf dem Boden oder wo auch immer. Stell dich nicht so an.«
»Ich stelle mich nicht an, Bri.« Genervt verdrehte er die Augen. »Wir machen alles nur noch schlimmer.«
»Sie will Daniel sehen, und das darf sie doch wohl, oder etwa nicht?«
Ergeben seufzend legte er den Kopf in den Nacken.
»Gut.« Brianna ging zu Helen und nahm sie