Der Sommer war vergangen, über Nacht war nach dem regenreichen Herbst, der Straßen und Wege in grundlose Moräste verwandelte, der Winter eingezogen, und der Winter hatte uns Halt geboten. Jetzt schien der Höhepunkt seiner eisigen Macht gekommen zu sein.
Es war die Stunde der Prüfung – für den Oberst, für Erich Metzelbrod, für uns alle. Ich wusste es seit dem Augenblick, da tags zuvor der Feuerschlag der russischen Artillerie begonnen hatte.
Während ich daran dachte, hörte ich mit halbem Ohr das stuckernde Brummen einer »Nähmaschine«, wie wir die russischen Nachtbomber nannten. Irgendwo warf die Maschine ihre Fracht ab. Die Bomben detonierten mit dumpfem Getöse, und das Flugzeug verschwand.
Ich erinnerte mich an einen Tag des Vormarschs, ostwärts Perwomaisk, nach der Schlacht von Uman. Unser Wagen scherte aus der Kolonne aus und setzte uns am Straßenrand ab. Ein alter Hauptmann stand da, Chef einer Kanonenbatterie. Es war ein goldener Hochsommertag. Die Sonne brannte wie über der Wüste. Der alte Hauptmann blickte eine Weile den vorbeijagenden Fahrzeugen nach, dann sagte er in hartem ostpreußischen Dialekt:
»Das alles wird sich totlaufen, meine Herren. Schade um die vielen jungen Kerls!«
»Sie sind nicht sehr zuversichtlich, Herr Hauptmann«, meinte Oberst Metzelbrod darauf. »Sehen Sie doch nur, wie alles rollt. Uman liegt hinter uns. Ich weiß nicht, wie man an einem Tag wie heute so schwarz sehen kann.«
Sicherlich war ich der Einzige, der den spöttischen Unterton vernahm. Der alte Hauptmann aber ließ sich nicht beirren.
»Die Russen sind Wintermenschen, Herr Oberst«, sagte er, »wenn erst mal Schnee liegt, wenn das Thermometer auf 40 Grad oder noch tiefer absinkt, dann gnade uns Gott!«
Er grüßte steif, stieg in seinen Kübelwagen und fuhr seiner Batterie – zehn Zentimeter Langrohr – nach, die Seltenheitswert besaß in der Armee.
Ich fröstelte damals trotz der Sommerhitze wie im Vorgefühl kommender Schrecken. Jetzt schien das düstere Orakel des alten Hauptmanns sich zu bewahrheiten. »Was mag aus ihm und seinen Kanonen geworden sein?«, fragte ich mich. In diesem Augenblick betrat Oberleutnant von Eisen den Gefechtsstand.
»Herr Emser«, sagte er, »holen Sie den Kommandeur! Wir haben keinen Nachschubweg mehr, der Russe steht überall.«
Er war ziemlich außer Atem. Aus dem Eichenwäldchen beim Wegekreuz, knapp acht Kilometer südlich Pawlowskaja, waren er und seine Leute von einem schweren Maschinengewehr »beharkt« worden, wie er sich ausdrückte. Für den schwachen Spähtrupp war es aussichtslos gewesen, auch nur den Versuch zu unternehmen, bis zu dem kleinen Nest vorzudringen, in dem die Baupioniere lagen oder vielmehr gelegen hatten. Denn dort saßen jetzt die Russen, daran war nicht zu zweifeln.
Während Oberleutnant von Eisen noch sprach, kam der Oberst herein. Er hatte alles gehört.
»Wärmen Sie sich auf, Eisen«, sagte er, »Sie haben Ihre Sache gut gemacht. Wir wissen jetzt, was anliegt.«
Es war sieben Uhr. Aber draußen war es noch dunkel. Ich rief die Vermittlung an und verlangte eine Verbindung mit dem Divisionsgefechtsstand. Wenig später erfuhr ich, die Leitung sei gestört. Erst jetzt fiel mir ein, wie einfältig es gewesen war, anzunehmen, dass die Russen unsere Fernsprechleitungen unangetastet lassen würden. Man musste sich erst zurechtfinden.
Ich gab den Befehl, im Gefechtsstand ein Funkgerät aufzubauen, denn die Verbindung zur Division musste klar sein. Nach vorn, zu den Bataillonen, waren die Leitungen noch intakt, und wenn sie zerschossen wurden, gingen die Störungssucher hinaus und flickten den Draht, der, wenn es schlimm kam, zur Lebensader werden konnte. Der Funkverkehr war recht fragwürdig; er war von Witterungs- und anderen Einflüssen abhängig, und gerade, wenn man ihn am nötigsten brauchte, versagte er häufig wie eine komplizierte Spielerei.
So stand es um sieben Uhr. Unteroffizier Baierle kam mit dem Funktrupp. Sie bauten ihr Gerät auf und gaben nach einigem Hin und Her an die Division glücklich die Meldung durch, unsere rückwärtige Verbindung sei in Feindeshand. Darauf gingen sie auf Empfang.
Wenig später kam ein Spruch vom Ia, das Regiment habe, wie am Vortag befohlen, die Stellung, komme was wolle, zu halten. Kein Wort davon, dass man versuchen werde, von außen unseren Nachschubweg freizukämpfen, kein Wort von Verstärkung, keine Silbe über den Gegenangriff, der nach früheren Verlautbarungen am Morgen hätte anlaufen müssen.
Abgeschrieben, dachte ich voller Bitterkeit. Ich wusste damals noch nicht, dass dies die neue Taktik war, dass man ein Jahr später eine ganze Armee, unsere Nachbararmee, die sechste, draußen an der Wolga abschreiben würde wie eine Hand voll ersetzbaren Materials. Ich war tief beeindruckt, aber ich sagte mir, ein Regiment wie das unsere besäße doch genügend Kampfkraft, sich selbst zu behaupten, wenn die Division, wohl auf höhere Weisung hin, nichts für uns tun könne oder dürfe.
Um 7 Uhr 30 oder einige Minuten früher begann es wieder zu rumoren. Der Feuerschlag des Vortages wiederholte sich, und diesmal war unser Abschnitt der Amboss, auf den der Granatenhagel mit geballter Wucht niederschmetterte.
Auch Pawlowskaja war stark betroffen, wieder ging eine Anzahl Häuser in Flammen auf, und Rufe nach Sanitätern gellten durchs Dorf. Als der Beschuss endlich nachließ, meldeten die Bataillone, russische Infanterie greife vom Donez her an. Auch Panzer waren wieder dabei; sie wälzten sich durch den Schnee und walzten die Häuser nieder, in denen diejenigen von den unseren, die nicht in den Gräben am MG standen, vor der mörderischen Kälte Schutz suchten. Trotzdem hielten die Kompanien fürs Erste ihre Stellungen. Aber es war ein ständiges Hin und Her. Auf Einbrüche, die der Feind erzielte, erfolgte der Gegenstoß, und wiederum wurde um die Häuser, um armselige russische Katen, gekämpft, um die Wärme, die darin zu finden war.
Um neun Uhr riss die Verbindung zum dritten Bataillon ab.
Einige Minuten später erschien Stabsarzt Mende, der Chef des Verbandplatzes, im Gefechtsstand. Er bat, den Kommandeur sprechen zu dürfen, und als der Oberst, der gerade Major Knappe an der Strippe hatte, frei war, legte er ihm nahe, für den Abtransport des Verbandplatzes zu sorgen. Die Verwundeten seien hilflos dem Artilleriefeuer preisgegeben, und viele Verwundungen und Erfrierungen könnten am Ort nicht behandelt werden.
Oberst Metzelbrod blickte abwesend vor sich hin, als wären seine Gedanken weit weg von Pawlowskaja. Doch als der Stabsarzt seine Bitte eindringlich wiederholte, unterbrach er ihn mit den Worten:
»Doktor, ich kann Ihnen nicht helfen, so bitter es mir ist. Es gibt zur Zeit kein Zurück – für keinen von uns. Im Süden – vermutlich auch im Osten steht der Russe. Ich habe den Ia ersucht, Sturmgeschütze einzusetzen. Aber ich fürchte, die Sturmgeschütze werden gegenwärtig an so vielen Ecken gebraucht, dass für unseren Schlittenweg nichts mehr übrig bleibt. – Nichts zu machen, Doktor!«
An Stabsarzt Mendes linker Wange zuckte die Narbe, die ihm vor Abbeville ein Paksplitter beigebracht hatte. Er verneigte sich steif wie jener alte Hauptmann an der Vormarschstraße.
»Verstehe, Herr Oberst«, sagte er, »eingeschlossen. Mit 20 Verwundeten oder, genau gesagt, 198. Aber die Zahl nimmt ja ständig zu. Hätte die Division da nicht früher disponieren können? Es sind doch Menschen, Herr Oberst, hilf- und wehrlose Menschen!«
Oberst Metzelbrod schüttelte den Kopf.
»Die Division, Doktor, die Division trifft keine Schuld. Das alles ist überraschend eingetreten. Man hat den russischen Angriff erwartet, aber weiter südlich in der Gegend von Artemowsk. Ich begreife Sie, Doktor, niemand begreift Sie besser als ich. Aber ich bin machtlos. Dazu kommt: Zum Abtransport Ihrer Verwundeten benötigt man Schlitten und Pferde oder die entsprechende Anzahl Sankas. Nun, die Sankas stehen unbeweglich in Slawiansk. Sie wissen ja, wie viele Motoren man im November zur Überholung nach Deutschland geschickt hat. Man richtete sich auf Winterquartiere ein und nicht auf einen Winterkrieg. Die Pferde aber sind zum großen Teil ins rückwärtige Armeegebiet gebracht worden. Sie waren fertig vom monatelangen Vormarsch und brauchten Ruhe, gutes Futter.