Die Hauptlast an diesem ersten Tag der Winterschlacht bei Isjum hatte unser linker Nachbar zu tragen gehabt. Dort hatte der Feind in Stärke von zwei Regimentern mit Panzerunterstützung angegriffen, wie man uns aus Slawiansk berichtete, und bis auf einige kleine Stützpunkte, die sich am frühen Nachmittag noch verteidigt hatten, war alles im Wanken. Der strenge Frost – wir hatten jetzt trotz der Wolkendecke nahezu 40 Grad – verschärfte die Lage erheblich. Denn die zurückfallenden Bataillone, denen der Feind mit Infanterie, Reitern und Panzern und nicht zuletzt auch mit seiner Artillerie auf den Fersen war, hatten in dem dünn besiedelten Gelände keine Möglichkeit, sich erneut festzusetzen, zumal es keine Auffangstellungen gab. Wie von Wölfen zersprengte Herden trieben sie durch die Winternacht, und Feuerschein im Westen zeigte uns, dass auch das Schicksal der Stützpunkte, die wie Inseln in der vernichtenden Flut tapfer standgehalten hatten, besiegelt war.
Bei den höheren Stäben – der Division, dem Korps und der Armee – betrachtete man die Lage ohne Optimismus. Zwar hatte man einiges aus dem Abschnitt des Nachbarkorps herausgezogen und nach der Durchbruchstelle in Marsch gesetzt, und von Süden, aus der Gegend von Taganrog, hatte man eine Jägerdivision abgerufen, die im Dezember, als Rostow nach kurzer Besetzung hatte aufgegeben werden müssen, an die 1. Panzerarmee überstellt worden war. Aber trotzdem verkannte die Armeeführung nicht, dass der Bestand der 17. Armee und der benachbarten 1. Panzerarmee ernsthaft gefährdet sei, wenn es nicht gelänge, den Vormarsch der Russen zum Stehen zu bringen. Das große Armeeverpflegungslager in Barwenkowo war bereits bedroht, und die Bahnlinie von Lossowaja nach dem nördlichen Donezgebiet war nicht mehr benützbar. Unserem Regiment fiel, wie der General selbst dem Oberst zu verstehen gegeben hatte, die Aufgabe zu, die Durchbruchstelle im Osten abzuriegeln und die Stellung am Donez um jeden Preis zu halten. Es war ein Himmelfahrtskommando für uns alle …
Über die Karte gebeugt, erklärte Oberst Metzelbrod mir die Lage, wie der Ia sie ihm verdeutlicht hatte.
»Das AOK bricht von Kramatorskaja nach Gorlowka aus«, bemerkte er, nachdem er einige Berichtigungen auf der Karte vorgenommen hatte.
Nun, wenn das Armeeoberkommando nach Süden und nicht nach Westen verlegte, sagte ich mir, bedeutete das immerhin, dass einige Aussicht bestand, am Donez zu bleiben.
»Heute Nacht kommt eine Schlittenkolonne aus Slawiansk«, fuhr der Kommandeur fort. »Man schickt uns Verpflegung und Munition. Beides können wir gebrauchen, denn die nächsten Tage werden nichts Gutes bringen.«
Ich gab ihm Recht, und dann bat ich ihn, sich hinzulegen.
»Ich werde Herrn Oberst schon wecken, wenn etwas quer geht«, versicherte ich. Er war ja nicht mehr 20. In seinem Alter brauchte man den Schlaf. Er brummte etwas und zog sich in seine Kammer zurück.
Ich war allein. Auch die Melder hatte ich zur Ruhe geschickt. Die Brände im Dorf waren erloschen. Ein Blick vor die Tür zeigte mir, dass der Schnee jetzt dichter fiel. Ich fand, es war erheblich kälter als am Morgen. Vielleicht kam das daher, dass jetzt ein heftiger, böiger Wind aus Nordosten wehte.
In dieser Nacht wird sogar dem Russen die Lust vergehen, sagte ich mir.
Aber bald zeigte es sich, wie sehr ich mich täuschte. Um neun Uhr rief Major Knappe an. Nach vorübergehender Ruhe griff der Feind erneut aus drei Richtungen an. Auch die Bataillone Merz und Hartung meldeten wenig später neue Angriffe, und das Artilleriefeuer lebte wieder auf. Vor allem Goroditsche im Abschnitt Hartung war als vorgeschobenster Stützpunkt Schauplatz eines wechselvollen, durch Stunden sich hinziehenden Gefechts. Kompaniechef in Goroditsche war Oberleutnant Metzelbrod, der jüngste Oberleutnant des Regiments. Am Weihnachtsabend – noch keine vier Wochen lag es zurück – hatten wir in Pawlowskaja seine Beförderung gefeiert. Um elf Uhr war damals ein Anruf vom Bataillonsgefechtsstand gekommen, der Oberleutnant solle unverzüglich zu seiner Kompanie zurückkehren. Ein russischer Stoßtrupp war als üble Weihnachtsüberraschung vor Goroditsche aufgetaucht und hatte zwei Häuser besetzt. Oberleutnant Metzelbrod war der letzte Sohn des Kommandeurs. Sein jüngerer Bruder Klaus war im Juni 40 an der Aisne gefallen.
Um Mitternacht kam vom Gefechtsstand Hartung die Meldung, dass Goroditsche eingeschlossen sei, aber die Gegenstoßreserve des Bataillons sei angetreten, um die Verbindung wiederherzustellen. Ich überlegte, ob ich den Kommandeur wecken sollte. Aber ich unterließ es. Es wird noch genügend Nächte ohne Schlaf geben, sagte ich mir. Was hätte er auch von Pawlowskaja aus tun können? Im Übrigen vermied er geradezu ängstlich alles, was danach aussehen konnte, sein Sohn habe eine bevorzugte Stellung im Regiment. Gegen drei Uhr morgens kam zudem die beruhigende Meldung, die Lage um Goroditsche sei bereinigt.
Was wird der Morgen bringen? fragte ich mich und legte mich, nachdem ich den Obergefreiten Janke als Telefonwache bestimmt hatte, zu kurzer Ruhe auf die Ofenbank.
Die Stunde der Prüfung
Um fünf Uhr weckte mich Janke.
In der Stube erblickte ich im kargen Schein der niedrig geschraubten Kerosinlampe eine Gestalt in Schneehemd und weiß gestrichenem Stahlhelm. Augenbrauen und Schnurrbart des Mannes waren vereist, und sein Gesicht hatte die Farbe einer reifen Tomate. Ich stand auf, und er meldete:
»Feldwebel Strobel mit 16 Schlitten und 43 Mann zur Stelle.«
Es war der Führer der angekündigten Versorgungskolonne.
»16 Schlitten?«, sagte ich verwundert, »Oberstleutnant Soltern sprach von 24.«
»Stimmt, Herr Leutnant«, entgegnete der Feldwebel, »es waren auch 24. Acht Schlitten sind mit Ladung und Pferden beim Russen. Sieben Mann sind gefallen. Ich habe sie bis auf zwei mitgebracht. Auch fünf Verwundete.«
»Was reden Sie da, Feldwebel«, fiel ich ihm ins Wort. »Sind Sie denn unterwegs angegriffen worden?«
»Jawohl, Herr Leutnant«, gab der Feldwebel zu, »auf einmal krachten Handgranaten, dann war der Iwan auch schon über uns. Sie müssen uns regelrecht aufgelauert haben. Wir schossen uns frei und schlugen sie zurück. Ich schätze, sie hatten größere Verluste als wir. Aber es war zu dunkel, und es schneite zu heftig, als dass wir Genaues hätten ausmachen können. Außer meinem Pionierzug hatte ich nur Trossleute. Sie haben sich gut geschlagen.«
Ich ging in die Kammer, um den Kommandeur zu rufen. Im Nu war Oberst Metzelbrod wach.
»Was gibt’s, Emser?«, fragte er, indem er sich aufrichtete.
»Auf der Straße nach Slawiansk steht der Russe«, sagte ich. »Soeben meldete es mir der Feldwebel, der die Munitions- und Verpflegungskolonne geführt hat. Acht Schlitten sind verloren, sieben Mann sind gefallen, fünf verwundet.«
Der Kommandeur zog die Stiefel über, knöpfte die Feldbluse zu, strich sich übers Haar und ging vor mir her in den Gefechtsstand.
Der Feldwebel nahm Haltung an. Von seinen Augenbrauen und den Enden seines Schnurrbarts tropfte das tauende Eis. Er wiederholte, was er mir bereits berichtet hatte, und machte an Hand der Karte nähere Angaben über den Ort des Überfalls.
»Emser«, bemerkte Oberst Metzelbrod, »dort ist doch das kleine Nest, wo die Baupioniere liegen. Verbinden Sie mich mit dem Kompanieführer!«
Ich rief die Vermittlung an und gab den Decknamen der Baupioniere. Sie hatten die Aufgabe, die Nachschubstraße für Fahrzeuge und Schlitten passierbar zu halten.
»Dringend!«, betonte ich, und der Mann in der Fernsprechvermittlung versprach, sein Bestes zu tun. Es dauerte eine Weile, dann hieß es:
»Spitzhacke meldet sich nicht.«
»Gehen Sie zur Stabskompanie«, befahl der Oberst. »Oberleutnant von Eisen soll erkunden, was mit den Baupionieren los ist!«
Ich ging ins Nebenhaus, weckte Eisen und setzte ihm auseinander, um was es sich handelte.
Er stand auf, nahm Stahlhelm, Mantel und Maschinenpistole und schickte sich an,