Verwaltungsakteure als Glieder von Handlungsketten innerhalb „pyramidaler Autoritätshierarchien“ (Luhmann) verfügen über die bedeutsame Position von „Verhinderungsmächtigen“.2
Sie sind daher diejenigen, die sich nach politischen und gesellschaftlichen Umbrüchen vor allem auf neue Verhältnisse einstellen müssen, die sie teilweise auch persönlich betreffen.
Nachfolgend werden auszugsweise Einzelschicksale und -persönlichkeiten portraitiert, die ab 1933 verhindert, ausgeschlossen, gefördert oder auch wiederberufen wurden. Es sind Beispiele der Alltagswirkung eines politischen Systems. Menschen, die nicht aufgrund von Ausbildung oder Kompetenz eine Position erringen sondern bspw. aufgrund ihrer Parteizugehörigkeit oder jener zu einer Massenorganisation, die nicht rückgebunden sind durch Qualifikation oder soziale Verbundenheit nach unten, sondern sich verpflichtet sehen dem ‚Oben‘ als Protagonisten und Exekutierer realitätsfremder Politik und Beförderer von Zielen, die wenig mit dem Interesse von Bürgerinnen und Bürgern gemein haben.
Diese Lebensläufe unter Rückgriff auf Originalakten und im Gespräch mit einem Zeitzeugen und ehemaligen Personalleiter der Stadt sichtbar gemacht zu haben, ist der große Verdienst dieser Schrift.
Vergessen werden darf nicht, dass die geschilderten Entscheidungen und ihre Auswirkungen nicht auf ein politisches System oder eine Ära beschränkt sind. Ähnliche Entwicklungen gab es in der DDR und gibt es selbstverständlich auch heute. Menschen qualifikationsfern auf Positionen zu berufen richtet nicht selten erheblichen Schaden an und führt trotzdem nicht immer zu dem notwendigen entschiedenen Widerstand der Öffentlichkeit, der kürzlich immerhin verhindern konnte, dass die Position des Leiters der Berliner Bauakademie mit einem vornehmlich parteipolitisch ausgewiesenen Kandidaten besetzt wurde. Viel zu oft werden die vorher sorgsam eingefädelten Strukturen nicht bekannt, bleiben unentdeckt oder werden nicht beachtet.
Eine wachsame Zivilgesellschaft ist notwendig, um entsprechende Entwicklungen argwöhnisch zu begleiten und, wenn notwendig, zu verhindern. Ebenso eine bürgernahe und kritische Presse, die sich als solche versteht – was mittlerweile auch nicht mehr als selbstverständlich angenommen werden darf.
Dieses Buch ist demnach nicht nur für historisch Interessierte spannend und wichtig, sondern grundsätzlich für alle, die sich der Gestaltung einer sozialen und zivilen Gesellschaft verpflichtet sehen. Die geschilderten Beispiele machen Strukturen und Beziehungen sichtbar, wie es sie auch heute gibt. Sie sensibilisieren dafür, sich auch als Verwaltung den Bürgerinnen und Bürgern verpflichtet zu sehen und sie machen deutlich, dass hinter den zu wählenden und den nicht zu wählenden administrativen Gestaltern einer Stadtgesellschaft Kräfte wirken, die man kennen und erkennen wollen muss, um die Auswirkungen ihres Handelns verstehen und antizipieren zu können.
Prof. Dr. Stefan Piasecki
1 Luhmann, Niklas (1988): Macht. Stuttgart: Enke, S. 39.
2 Ders. (2000): Die Politik der Gesellschaft. Frankfurt: Suhrkamp, S. 43.
Abkürzungsverzeichnis
BDM Bund Deutscher Mädel
Gestapo Geheime Staatspolizei
HJ Hitlerjugend
KPD Kommunistische Partei Deutschlands
NS Nationalsozialismus
NSDAP Nationalsozialistische Deutsche Arbeiterpartei
OVG NRW Oberverwaltungsgericht Nordrhein-Westfalen
SA Sturmabteilung
SS Schutzstaffel
SPD Sozialdemokratische Partei Deutschlands
StAMH Stadtarchiv Mülheim an der Ruhr
1. Einleitung
Auch noch 75 Jahre nach dem Untergang des Dritten Reiches gerät das nationalsozialistische Regime immer wieder in den Blick diverser Forschungen. Es verwundert daher nicht, dass es zum Nationalsozialismus bereits eine Fülle von Informationen und geschichtlicher Aufbereitung gibt.
Die Stadtverwaltung und ihre Bediensteten wurden im Geflecht des nationalsozialistischen Staates jedoch vergleichsweise wenig thematisiert. Für die Städte Münster1 und München2 werden seit einiger Zeit groß angelegte Studien durchgeführt, die die jeweiligen Stadtverwaltungen während des Nationalsozialismus thematisieren.
Hier knüpft die vorliegende Arbeit an und es wird speziell die Stadtverwaltung der kreisfreien Großstadt Mülheim an der Ruhr in Nordrhein-Westfalen betrachtet, der Fokus liegt vor allem auf den ehemaligen Beschäftigten. Es soll aufgezeigt werden wie der Nationalsozialismus Einfluss auf die Aufgaben sowie den Arbeitsalltag der Mülheimer Stadtverwaltung hatte und inwieweit die politischen Umstände in das Arbeitsleben einzelner Bediensteter hineingewirkt und die Entscheidungen der Beschäftigten beeinflusst haben.3
Zu diesem Zweck wurden hauptsächlich archivierte Personalakten ausgewertet, aber auch alte Ratsangelegenheiten, Zeitungsartikel, Akten aus der allgemeinen Sachbearbeitung sowie damalige Niederschriften und Verfügungen herangezogen, die im Stadtarchiv Mülheim an der Ruhr öffentlich zugänglich sind. Zur Ergänzung der gesammelten Informationen wurde außerdem ein Zeitzeuge interviewt, der seit 1940 bei der Stadtverwaltung Mülheim an der Ruhr beschäftigt war (s. Anhang, Kapitel 8).
Der aktuelle Forschungsstand sieht wie folgt aus: Die bisherigen Arbeiten bezüglich der Stadt Mülheim an der Ruhr im Nationalsozialismus gelten den Themen des Widerstands, des Zwangsarbeitersystems und den Opfern des Regimes. In den 1980er Jahren wurde von der Vereinigung der Verfolgten des Naziregimes – Bund der Antifaschistinnen und Antifaschisten in Zusammenarbeit mit der Stadtverwaltung die Wanderausstellung „Widerstand und Verfolgung in Mülheim 1933 bis 1945“ installiert, die auch heute noch besucht wird, vor allem von Schulklassen.4 Zudem hat die Stadtverwaltung in den 1990er Jahren drei historische Untersuchungen zu ihrer Stadtgeschichte im Nationalsozialismus in Auftrag gegeben, die die Themen Zeitzeugenberichte, Zwangsarbeit und das jüdische Leben in Mülheim an der Ruhr reflektieren.5 Auch die Mülheimer Stolperstein-Initiative hat bereits viele Schicksale nationalsozialistischer Opfer aufgearbeitet, hauptsächlich von ehemaligen jüdischen Mitbürgerinnen und Mitbürgern, welche die größte Opfergruppe des Nationalsozialismus darstellen. Es wurden in Mülheim an der Ruhr jedoch auch Stolpersteine für andere Gruppen von verfolgten Personen verlegt, beispielsweise für Zeuginnen und Zeugen Jehovas oder Opfer der Euthanasie, die sich gegen Menschen mit Behinderung richtete.6
Um die Stadtverwaltung Mülheim an der Ruhr im Nationalsozialismus nun gesondert zu betrachten, gliedert sich die vorliegende Arbeit in fünf inhaltliche Kapitel. Es erfolgt zuerst ein kurzer Überblick über die historische Entwicklung der Stadt Mülheim an der Ruhr in der Zeit des Nationalsozialismus (Kapitel 2).
Danach werden die dienstlichen Werdegänge der Mülheimer Oberbürgermeister der Jahre 1933 bis 1945 betrachtet und verglichen, da das Amt des Oberbürgermeisters als Spitze der Stadtverwaltung