Eine noch größere Zahl als ein Googol ist ein Googolplex, also 10 hoch Googol. Ein Googol hat hundert Nullen und ein Googolplex ist größer als die gesamte Anzahl der Protonen im Universum, hat zumindest der Mann behauptet. Ich frage mich schon, wie das sein kann, weil das Universum ist ja eigentlich unendlich.
Auf jeden Fall war Google schnell klar, dass das mit dem Coronavirus eine größere Sache werden würde. Aber da es ansonsten noch kaum etwas darüber gab – einfach nur viele Fragen, aber keine Antworten – entschied Google, sobald man »Corona« eingab, einfach, einen roten Kasten anzuzeigen, auf dem SOS Warnmeldung stand. Auf diesem Banner gab es ein Zeichen, das so aussah wie der Teilen-Button, wenn man aber darauf klickte, passierte gar nichts. Wahrscheinlich ging es bei dem Banner eher um so ein Grundgefühl, dass das, wonach man suchte, wichtig und gefährlich war, auch wenn man unter dem Suchbegriff noch kaum etwas finden konnte.
VIROLOGEN
Bislang hatte sich eigentlich kaum einer für das Berufsbild des Virologen interessiert, doch nun hörte man immer häufiger von ihnen und kannte manche sogar beim Namen. Virologen beschäftigen sich mit der Virologie als der Lehre von den Viren, erforschen deren Eigenschaften und suchen nach Möglichkeiten, sie zu bekämpfen.
Der Virologe, der in unserem Land bald der bekannteste aller Virologen sein sollte, schließlich hatte er den SARS-Erreger mitentdeckt und war auch ein bisschen hübsch, saß gleich von Anfang an mit in den Talkshows. Er hatte die Proteinkristalle, die er aus den Virenhüllen hatte wachsen lassen, mit hochbrillantem Röntgenlicht durchleuchtet und aus den gewonnenen Bildern die exakte Struktur der Proteine am Computer berechnet. Aber nicht nur das: Wegen seines angenehmen Äußeren und seiner ruhigen, eindringlichen Art zu reden, vertrauten die Menschen ihm bald mehr als den meisten anderen, die in der Krise eine Meinung hatten. Er aber blieb ganz ruhig, denn er war doch in erster Linie Wissenschaftler. Er ließ sich nicht hinreißen, irgendwelche Zahlen zu nennen, auch wenn die Journalisten mit noch so vielen Tricks versuchten, ihm eine Zahl zu entlocken. Er wusste am allerbesten, dass den Menschen doch nicht geholfen war, wenn sie Zahlen hörten, sie verstanden ja rein gar nichts davon.
QUOTE
Ein Schauer durchlief sie, als während der Sendung die magische Zahl nach oben durchbrochen wurde. Der Sendeleiter hatte das Zeichen gemacht. Sie wusste also, dass gerade etwas Besonderes passierte und dass sie Teil davon war. So hoch waren die Quoten schon seit 2001 nicht mehr gewesen. Da machte es nichts, dass sie für ein paar Sekunden den Faden verlor und der Redefluss ins Stocken geriet. Ihr war etwas schwindelig und die Lichter an der Studiodecke begannen sich zu drehen, trotzdem lächelte sie weiter in die Runde. Dafür war sie Profi genug. Der Virologe, der zu ihrer Rechten saß, nutzte den Moment und erläuterte noch mal die R-Zahl. Er sprach so weich, stets darauf bedacht, dass kein falsches Wort aus seinem Mund kam. Das verschaffte ihr die Pause, die sie brauchte, um ihre Gedanken zu fokussieren, und sie blickte auf das beleuchtete Notausgangsschild, auf das grüne Männchen, das sich in Sicherheit brachte.
Man hatte schon gedacht, es wäre vorbei mit dem Staatsfernsehen. Die Streaming-, also Video-on-Demand-Anbieter und Plattformen hatten das Fernsehprogramm zunehmend unattraktiv erscheinen lassen. Nur die Alten wussten es noch zu schätzen, sich vom öffentlichrechtlichen Rundfunk viele Stunden am Tag berieseln zu lassen. Als aber der Virus kam, war das die Chance, auf die die Programmchefs und Sendungsmacher lange gewartet hatten. Nur ganz ab und zu gab es noch was zur Unterhaltung, aus gegebenem Anlass. 40 Jahre »Verstehen Sie Spaß?«, leider ohne Publikum, aber live aus München, mit Kameramännern mit Mundschutz. Aber in der Hauptsache sah sich der öffentlich-rechtliche Rundfunk von der Krise dazu ermächtigt, zusammen mit der Regierung und den Top-Virologen das Krisenmanagement zu übernehmen und die beunruhigten Bürger zu informieren.
TEST
Am besten konnte man es vielleicht mit feinen Stichen beschreiben, mitten in mir drin. Begonnen hatte es in den Augenwinkeln, da, wo sich eigentlich die Tränenflüssigkeit sammelt, und nun bahnte es sich seinen Weg durch mich hindurch. Dass man nur wenige von den beschriebenen Symptomen hat, ist noch kein Beweis nicht infiziert zu sein, das konnte man überall lesen. Ich hatte den Virus jetzt schon fast eine Woche lang und lief immer noch so mir nichts, dir nichts durch die Gegend. Nicht zu fassen, dass mich keiner testen wollte. Der Virus war ganz anders als alles, was ich bis dahin erlebt hatte. Dass es sich um eine gänzlich neuartige Krankheit handelte, konnte man daran erkennen, dass alles wie in Zeitlupe verlief. Mein Körper hatte keinerlei Verhaltensmuster, wie er auf den ihm unbekannten Virus reagieren sollte.
Ich war mir unsicher, ob ich es besser allen sagen sollte, um sie vor mir zu warnen, oder es lieber geheimhalten. Ich ging meinen neuen Nachbarn aus dem Weg. Aus dem Fenster sah ich die schwangere Nachbarin mit einem Korb zum Dorfsupermarkt hinübergehen. Ihr Bauch war in kürzester Zeit erstaunlich dick geworden. Sie taten alle noch so, als würde das Leben einfach weitergehen können. Ich wollte irgendwas hinüberrufen, um ihr wenigstens ein Zeichen zu geben, aber was hätte ich schon rufen sollen? Schließlich rief ich sie an und sagte, dass ich ein Kratzen im Hals spüre, nur damit sie das wisse, und dass ich mich sofort testen lassen würde. Dann wählte ich die Nummer des Gesundheitsamts. Auf die Frage, wie ich darauf komme, infiziert zu sein, musste ich ein bisschen ausholen und von dem Filmfestival erzählen und der Zombieserie und so weiter. Die freundliche Frauenstimme am Apparat, die sich alles geduldig angehört hatte, erklärte mir, dass diese Umstände nicht ausreichten, um mich für einen Test zu qualifizieren, und dass ich lieber zum Hausarzt gehen und mich auf Grippe untersuchen lassen sollte. Das Besorgniserregendste an unserem Telefonat war die besänftigende Freundlichkeit der Frau. Es musste also wirklich schlimm sein, dachte ich. Im Hintergrund hörte ich noch eine andere freundliche Frauenstimme, die wohl gerade jemand anderen am Telefon beruhigte. Seltsamerweise hatte ich den Gedanken, was der andere Anrufer doch für ein Trottel war, dass er da anrief und sich einbildete, er hätte den Virus.
HONKA, BAR DES VERGESSENS
»Nichts wie weg hier«, dachte Geraldine. Das verdammte Kaff war total ausgestorben, und das an einem ganz normalen Wochentag. Geraldine lenkte ihren Schritt weiter in Richtung Zentrum. So sehr, wie sie sich auf die Einsamkeit gefreut hatte, freute sie sich jetzt, endlich mal wieder auf Menschen zu treffen. Es waren nur zwei Wochen gewesen, die sie in der einsamen Hütte ganz allein verbracht hatte, und sie war froh, dass sie durchgehalten hatte, aber genug war genug. Sie bog auf den Platz vor der Kirche ein, der zu ihrem Erstaunen ebenfalls total ausgestorben war. An der Längsseite des Platzes befand sich ein Einkaufsmarkt und gleich gegenüber das große Haus, in dem sie wohnte. Es war früher mal ein Hotel gewesen, aber schon lange wollte hier niemand mehr absteigen. Mitten auf dem Platz war die Bushaltestelle.
»Wenn die Einsamkeit in der Hütte dich nicht kleingekriegt hat«, dachte Geraldine, »dieses Drecksloch wird es ganz sicher schaffen.«
Man konnte Geraldine die vielen Tage in der Wildnis durchaus ansehen, aber selbst die Tatsache, dass sie ganz in Funktionskleidung gehüllt war und die Körperpflege in der letzten Zeit auf das Nötigste reduziert hatte, konnte nicht darüber hinwegtäuschen, dass sie eine schöne Frau war. Von ihrem langen, aschblondem Haar, jetzt selbstbewusst zu einem Dutt gebunden und unter dem Trapperhut verborgen, hatten es ein paar Strähnchen geschafft, sich zu befreien und hingen in kleinen Löckchen an ihren Wangen herunter. Ihr Gesicht war fein, aber klar geschnitten, mit einer geraden Nase. Der Gürtel, der mit allerlei nützlichen Kleinigkeiten bestückt war, ließ unter der Wachstuchjacke ihre schlanke, sportliche Figur erahnen.
Sie ging auf die Bushaltestelle zu, um die Abfahrtszeiten zu studieren, aber als sie so dastand, vertieft in die Uhrzeiten und Orte auf dem Plan, hörte sie, ganz leise, ein