Daraus ergibt sich ein Modell der Motivationen für die Beschäftigung mit der Photographie.3 Der Akt, Photos aufzunehmen, sie aufzubewahren oder sie anzuschauen, kann in fünffacher Weise als befriedigend erlebt werden: »als Schutz gegen die Zeit, als Kommunikation mit anderen und Ausdruck von Empfindungen, im Sinne von Selbstverwirklichung, unter dem Aspekt des gesellschaftlichen Prestiges sowie als Zerstreuung oder Flucht aus dem Alltag«. Demnach bestünden die Funktionen der Photographie darin, erstens die Angst zu mindern, die Vergänglichkeit und Zeitlichkeit der Existenz in uns wecken, indem sie entweder einen magischen Ersatz für das bietet, was die Zeit zerstört hat, oder indem sie der Schwäche unseres Gedächtnisses abhilft und uns erlaubt, die mit den Bildern verbundenen Erinnerungen heraufzubeschwören, kurz, indem sie uns glauben macht, uns der Zeit als zerstörerischer Macht entwinden zu können; zweitens darin, die Kommunikation mit anderen zu erleichtern, gemeinschaftlich vergangene Situationen zu rekonstruieren oder anderen unser Interesse oder unsere Zuneigung zu bekunden; drittens darin, dem Photographen ein Mittel zur Verfügung zu stellen, »sich zu verwirklichen«, indem sie ihn in der magischen Aneignung oder der faszinierten oder karikierenden »Neuschaffung« des abgebildeten Gegenstandes seine eigene »Macht« erfahren läßt oder indem sie ihm die Möglichkeit gibt, »seine Gefühle intensiver zu empfinden«, einen künstlerischen Vorsatz auszudrücken oder seine technische Meisterschaft zu offenbaren; viertens darin, mittels technischer Leistungen, der Dokumentation einer persönlichen Anstrengung, einer Reise oder eines Vorkommnisses oder durch demonstratives Konsumverhalten bestimmte Prestigebedürfnisse zu befriedigen; und schließlich fünftens darin, den Anforderungen der Realität für eine Weile zu entkommen, oder sich einfach zu zerstreuen, wie bei einem Spiel. Gemessen an diesen fünf Funktionen oder Möglichkeiten bildeten »das schmale Portemonnaie, die Angst, zu versagen oder sich lächerlich zu machen, und der Wunsch, Schwierigkeiten zu vermeiden«, die hauptsächlichen Schranken für eine Beschäftigung mit der Photographie.
Mit dieser Erklärungsmethode, die »auf dem Prinzip beruht, das Verhalten der Einzelnen erklären und verstehen zu wollen, ohne [...] sich mit den Gründen zufriedenzugeben, die die Individuen selbst dafür benennen«, kommt man am Ende freilich nicht zu mehr als einem zusammenhanglosen Katalog von Gründen oder Rationalisierungen, auf die sich jedermann berufen kann, um seine Aktivität oder seine Abstinenz zu rechtfertigen. Diese »Vulgata«, eine Denkfigur, die auf halbem Wege zwischen alltäglicher Plauderei und wissenschaftlichem Diskurs angesiedelt ist, erfüllt ihre Rolle perfekt: Es gelingt ihr, die Illusion zu erzeugen, Wahrheiten zu enthüllen, wo sie im Grunde nur Gemeinplätze mobilisiert und sie in eine Sprache kleidet, die sich für wissenschaftlich ausgibt. Und soweit sie, immerhin, die Bedeutungen und Werte, denen sich die Photographen bei ihrer Tätigkeit verpflichten oder zu verpflichten glauben, zu beschreiben beansprucht, operiert diese Art Psychologie, die angeblich der Erforschung der Tiefenschichten der Person dienen soll, mit Kategorien, in denen die dünnen Reflexe der Freudschen Konzepte des Voyeurismus, des Narzißmus und des Exhibitionismus aufscheinen.
Tatsächlich ist es gerade die Absicht, die Erklärung der Photographie in Motivationen (d.h. in letzten Ursachen) zu suchen, die den Psychologen dazu verdammt, sich auf die psychischen Ausdruckselemente zu beschränken, und zwar in der Gestalt, in der sie erfahren werden, d. h. auf die »Befriedigungen« und »Gründe«, statt die gesellschaftlichen Funktionen aufzuspüren, die sich hinter den »Gründen« verbergen, und deren Erfüllung obendrein die unmittelbar genossenen »Befriedigungen« herbeiführt.4 Kurz, wer die Wirkung für die Ursache nimmt, der erklärt die photographische Praxis, die gesellschaftlichen Regeln unterworfen ist, gesellschaftliche Funktionen wahrnimmt und innerhalb dieses Rahmens als »Bedürfnis« erlebt wird, durch deren Resultat, nämlich durch die psychischen Befriedigungen, die sie verschafft.5
Es ist mehr als augenfällig, daß es nicht genügt, beispielsweise die photographische Praxis der Volksklassen als die Resultante eines Bedürfnisses zu beschreiben, das sich aus allgemeinen Motivationen und finanziellen Beschränkungen zusammensetzt, wobei das Konkrete nur noch in der algebraischen Summe zweier Abstraktionen erscheint. Die Analyse verharrt so lange bei der abstrakten Universalität von Bedürfnissen oder Motivationen, als man die Wünsche von der konkreten Situation loslöst, in der sie entstehen und mit der sie untrennbar verbunden sind, einer Situation übrigens, die objektiv durch ökonomische Zwänge und soziale Normen determiniert ist.6 Anders ausgedrückt: Individuelle Wünsche und Ansprüche werden in Form und Inhalt durch objektive Bedingungen bestimmt, die die Möglichkeit ausschließen, sich das Unmögliche zu wünschen.
Zu verstehen, was es für die Arbeiter bedeutet, gelegentlich, bei traditionell vorgezeichneten Anlässen und nach den Regeln einer traditionellen »Ästhetik« zu photographieren, kurz, die Bedeutung und die Funktion zu verstehen, welche die Arbeiter der Photographie zuschreiben, heißt, das Verhältnis der Arbeiter zu ihrer Lage zu verstehen: Ihre Beziehung zu einem beliebigen Gut umschließt die stillschweigende Berufung auf das System des objektiv Möglichen und Unmöglichen, das sowohl diese Lage als auch die Verhaltensweisen definiert, die mit dem objektiv Gegebenen, an dem sie sich gemessen fühlen, verträglich oder unverträglich sind. Daher rührt es, daß in unserem Fall des Engagement für eine selten und rudimentär betriebene Praxis und das geringe Interesse an deren Intensivierung die Verinnerlichung der Grenzen zur Voraussetzung haben, die die ökonomischen Barrieren und zugleich das Bewußtsein davon bestimmen, daß als abstrakte und unmögliche Möglichkeit eine andere Form der Praxis existiert, die für andere möglich ist. Nur so wird der Stil der Antworten von Arbeitern verständlich, die über ihre photographische Praxis befragt wurden. Die Unterstellungen, die Frage- oder Konditionalform der Sätze, die Anspielung auf die virtuosesten Photographen, die man kennt, und das oft Träumerische und Spielerische der Antworten signalisieren dieses Bewußtsein von einer abstrakten und weit entfernten Möglichkeit: »Wenn ich einen guten Apparat hätte, würde ich einem Photoklub beitreten.« »Wenn ich freie Zeit hätte ...« »Wenn ich photographieren würde, dann überall, wo ich hingehe: in den Bergen, am Strand oder in der Stadt.« All dies ist einbeschlossen in der Bemerkung, mit der man seinen Verzicht begründet: »Das ist nichts für uns«, d.h. wir sind nicht die, für die dieses Objekt oder diese Aktivität als objektive Möglichkeit existiert, ja, dieses Objekt oder diese Tätigkeit wäre für uns nur dann eine »sinnvolle« Möglichkeit, wenn wir, wenn unsere Lebensverhältnisse andere wären. Hier wird deutlich, daß das Verhältnis zu einem Gut, gleichgültig welcher Art, stets und verdeckt den Schatten der Besonderheit der objektiven Lage enthält, die dieses Gut als erreichbar oder als unerreichbar qualifiziert. Mit den Worten: »Das ist nichts für uns« sagt man mehr als: »Das ist zu teuer« (für uns). Ausdruck der verinnerlichten Notwendigkeit, steht diese Formel sozusagen im Indikativ-Imperativ, da sie zugleich eine Unmöglichkeit und ein Verbot anzeigt, eine Erinnerung an die Ordnung, aber auch eine Mahnung an diese. Im übrigen verknüpft sich das Bewußtsein vom Unmöglichen und Verbotenen – da es sich unter Berufung auf die Lage in ihrer Besonderheit konstituiert – mit der Wiedererkennung des konditionalen Charakters dieses Unmöglichen und Verbotenen, soll heißen, mit dem Bewußtsein von den Bedingungen, die, wollte man sie aufheben, zunächst einmal zusammengedacht werden müßten. Das heißt, diese Einstellung zur Photographie bildet sich angesichts eines Systems von Ansprüchen, die einen ambitionierteren und folglich kostspieligen Typus der photographischen Praxis definieren. Zur Erläuterung zitiere ich die Äußerungen eines fünfundvierzig jährigen Arbeiters:
»Ich photographiere natürlich vor allem meine Kinder, aber auch meine Kumpel. [...] Das sind hauptsächlich Erinnerungsphotos, ich photographiere nämlich Personen nicht so gern. Ich mag lieber Landschaftsaufnahmen, es sei denn, es handelt sich