auf jede Praxis (indem er sich selbst verleugnet). Der Grund dafür ist, daß die gesellschaftlichen Klassen sich auf diesem Gebiet nur voneinander unterscheiden können, indem sie auf je besondere Weise von der gängigen Praxis abweichen. Die Aktualisierung der ästhetischen Intention gelingt hier sehr schwer, nicht nur, weil die Aufhebung jener Funktionen, denen die Praxis gemeinhin dient, schwieriger ist als in anderen Fällen, sondern auch, weil in der Vorstellung, die man sich von der Photographie und deren künstlerischem Wert macht, allzu oft der Vorsatz dominiert, sich eher durch Abstinenz oder nüchterne Zustimmung als durch ästhetische Arbeit von anderen abzuheben: Angesichts ihres minderen Ranges in der Hierarchie der Künste scheint die Photographie weder Anstrengung noch Opfer zu lohnen. Der Versuch, eine künstlerische Absicht über die Photographie zu verwirklichen, erscheint übertrieben, weil es an Modellen und Normen gebricht, und weil die Möglichkeiten des individuellen Ausdrucks oder des Schöpferischen hier weit mehr in der Wahl des Gegenstandes begründet liegen als in der Art und Weise, ihn photographisch zu erfassen, die, wie man glaubt, nur begrenzt der Variation fähig ist. Freilich hängen diese drei Gründe eng miteinander zusammen. Fraglos würde die ästhetische Gebrauchsweise sich stärker durchsetzen, wenn die Photographie eine sanktionierte Kunst wäre. In diesem Fall wäre die Verwirklichung der ästhetischen Intention sehr viel einfacher, weil ihr ein Kodex von Prinzipien und Geboten zur Verfügung stünde, der eine autonome Ästhetik der Photographie definierte, und weil sie in sanktionierten Modellen jene ästhetischen Gewißheiten fände, die eine Praxis anzuleiten vermöchten, die von ihrem künstlerischen Wert überzeugt wäre.
93
Wenn das richtig ist, dann wird verständlich, daß die Individuen, die die Photographie als künstlerische Tätigkeit auffassen, eine Minderheit von »Abweichlern« sind, gesellschaftlich bestimmt durch größere Unabhängigkeit im Hinblick auf die Bedingungen, die die Praxis der Mehrheit nicht nur in ihrer Existenz determinieren, sondern auch in ihren Gegenständen, ihren Anlässen und ihrer »Ästhetik« sowie durch ein besonderes Verhältnis zur »hohen Kultur«, das an ihre Situation in der Gesellschaft gebunden ist. Dieselben Gründe, die die gebildeten Klassen von der Photographie abhalten, veranlassen bisweilen Angehörige der Mittelklassen, sie als einen zugänglichen Ersatz für sanktionierte Tätigkeiten zu interpretieren, die ihnen verwehrt bleiben.
* Gemälde von Jean-François Millet, 1814–1875 (A.d. Ü.)