»Ein Bauer, der Photos macht, daß ich nicht lache! Das überlassen wir besser den Leuten in der Stadt! Henri [mein Sohn] macht welche, aber der ist auch kein geborener Bauer. Wenn man nach der Arbeit fix und fertig ist, das gäbe ein schönes Photo!« »Ich habe noch nie einen Bauern gesehen, der regelmäßig Photos macht. Wenn einer von ihnen ausnahmsweise den Mut dazu hätte, z.B. am Hochzeitstag mit einem solchen Apparat herumzuhantieren, würde er sich lächerlich machen. Weiß Gott, sie können eben besser mit dem Pflug umgehen! Es gibt ein paar Frauen aus sehr guten Familien, die vor einer Hochzeit Photos aufnehmen, aber das ist eigentlich selten, und sie fallen auf. Sie spielen sich auf, diese Angeberinnen! Bei denen wird kein Bild was!« »Die Bauern, die ich kenne, haben Besseres zu tun, als mit so einem Gerät umzugehen, vor allem die kleinen wie wir. Das ist wohl ein teurer Spaß. Dazu muß man gut betucht sein, und das ist keiner von denen, die ich kenne.« »Auf dem Land gibt es kaum welche, die einen Photoapparat umhängen haben. [...] Aber es gibt viele, die einen Brotbeutel über der Schulter tragen, und den brauchen sie auch. [...] Das ist alles eine Mode. [...] Wer dafür keinen Sinn hat, der kümmert sich gar nicht erst darum.« »Man geniert sich, Aufnahmen zu machen. Teils schämt man sich, teils liegt es am eigenen Ungeschick. Das ist etwas für die Feriengäste, das gehört nicht aufs Land. Ein Bauer, der sich mit einem Photoapparat über der Schulter sehen ließe, das wäre ein verhinderter Herr. Um mit diesen Apparaten umgehen zu können, braucht man feine Hände. Und die Kröten? So was ist teuer. Das geht ins Geld, bis man den ganzen Krempel beisammenhat.«
Kurz, wer photographieren wollte, würde den Städter nachahmen oder, wie man sagt, »den feinen Herrn markieren«. In der Tat stellt man seit jeher dem Bauern den »Herrn« gegenüber. Der Bauer von früher, der etwas auf sich hielt, grenzte sich ebenso vom »verbauerten« Bauern ab, vom »Hinterwäldler«, wie vom »verbürgerlichten« Bauern. Zwar sah man darüber hinweg, wenn ein Bauer sich so sehr in seine Arbeit verbissen hatte, daß er darüber bestimmte gesellschaftliche Pflichten vergaß; aber das kollektive Urteil war erbarmungslos gegenüber jedem, der auf den Gedanken verfiel, »den Herrn zu spielen«, und seine Aufgaben als Bauer vernachlässigte. »Sich zum Herrn machen«, das bedeutet einen zweifachen Verstoß gegen die fundamentalen Gebote der bäuerlichen Moral, nämlich sowohl als Mitglied der Gruppe wie auch als Bauer aus der Reihe zu tanzen, indem man seine Herkunft verleugnet. Dem Städter, der der Gruppe gänzlich fremd ist, gesteht man die »Abweichung« zu; sie gehört zu dem stereotypen Bild, das man sich von ihm macht. Der Photoapparat ist eins der Attribute des »Urlaubers«. Man macht – nicht ohne Ironie – dessen Launen mit, wirft sich vor seinem Ochsengespann in Positur und denkt sich: »Sie haben zuviel Zeit und zuviel Geld.« Gegenüber den im Ort Geborenen, die jetzt in der Stadt leben, ist man weniger tolerant, und noch weniger gegenüber den Bewohnern des nächsten Marktfleckens, von denen man argwöhnt, daß sie nur photographieren, um für Städter zu gelten. Anders ausgedrückt, nicht die Beschäftigung mit der Photographie generell wird abgelehnt: als Marotte und Liebhaberei des Städters paßt sie sehr gut zu den »Fremden«, freilich nur zu diesen. Was man für absolut verwerflich hält, ist der Gebrauch der Photographie als Mittel, sich von der Gruppe und der Lebenswelt der Bauern zu distanzieren.48 Genau genommen geht es darum, undiskutierte und bedingungslose Zustimmung zu einem System willkürlicher Regeln, die das Verhalten des Bauern von Grund auf prägen, sicherzustellen. Das wird ganz deutlich an dem folgenden Dialog zwischen zwei Bewohnern von Lesquire, für den das unaufhörliche Schwanken zwischen der schlichten Berufung auf die soziale Norm, jeweils willkürlich und unvermittelt, und dem Rückgriff auf Erklärungen aus Zweitursachen oder – gründen, denen das reale Verhalten widerspricht (vgl. das Schema auf den folgenden Seiten),49 charakteristisch ist.
Wie man sieht, kommen die Werte der bäuerlichen Gesellschaft in den Zugeständnissen und Ausnahmen ebensogut zum Vorschein wie in den Geboten und Verboten. Soweit die Photographie dort akzeptiert wird, wo ihre Funktion in der Aufrechterhaltung der sozialen Beziehungen besteht, sofern sie als oberflächliche und daher nur dem Städter angemessene Beschäftigung für die Dauer der Adoleszenz toleriert wird, folgen diese Zugeständnisse gegenüber der Regel jenen Werten, an denen auch die Regel teilhat.
Die Heranwachsenden haben stets ein Anrecht auf erlaubte, d.h. symbolische und träumerische Unbekümmertheit gehabt. Früher profitierten die Jugendlichen insbesondere von der normierten Freiheit traditioneller Feste, etwa des Karnevals; bis heute sind sie für frivole Unternehmungen »zuständig«, ihnen obliegt die Organisierung und Vorbereitung von Festen, oder sie treiben Sport, während die Wahrnehmung von ernsthaften Angelegenheiten, beispielsweise von Gemeindeinteressen, bei den Erwachsenen liegt. Es verhält sich mit der Photographie wie mit dem Tanzen und den Techniken der verliebten Werbung, ja des Amüsements überhaupt. Bei den Jüngeren durchaus gebilligt, werden diese Praktiken mit der Eheschließung aufgegeben, die einen tiefen Einschnitt in die Existenz bezeichnet. Von einem Tag zum anderen ist es vorbei mit den Tanzvergnügen, den Ausflügen und der Photographie, die mit beiden gelegentlich verbunden war.
»Sie machen Photos, wenn sie sich verlieben, wenn Tänze veranstaltet werden. Natürlich, wenn man jung ist, tauscht man Photos aus; nach 25 Jahren sieht alles ganz anders aus, da hat man andere Sorgen im Kopf.« »Sobald ein Paar auf dem Land geheiratet hat, muß es sich um andere Dinge kümmern. B., der größte Bauer in der Umgebung, hat während seiner Verlobung und in der ersten Zeit nach der Hochzeit noch Photos gemacht. Heute müssen sie den Gürtel noch enger schnallen als wir Kleinbauern. Solche Flausen vergehen einem schnell, wenn die familiären Sorgen kommen, genau wie die Lust, auswärts tanzen zu gehen. Meiner Meinung nach ist das ganz normal. Und schließlich die Photographie: dafür sind die Berufsphotographen da, jedenfalls für die feierlichen Anlässe.«
So wird die Photographie als Objekt wie als Praxis immer nach der Logik jenes Systems impliziter Werte reinterpretiert, das die ländliche Gesellschaft beherrscht. Das photographische Bildnis, eine Innovation, deren man sich bedient, ohne sie ganz und gar gutzuheißen, wird von dieser Gesellschaft so weit übernommen, als es für sie eine Funktion zu erfüllen vermag. Bei den Heranwachsenden als Spielerei ohne Konsequenzen und Beständigkeit geduldet, den Frauen oder Familienmüttern gern zugestanden, weil sie in deren Händen gesellschaftlich vereinbarten Zwecken dient, widerspricht die photographische Praxis jedoch den männlichen Werten, die das Bild des typischen Bauern bestimmen; sie greift das Gebot der Konformität an, jenes ungeschriebene Gesetz, von dem das gesamte soziale Leben auf dem Land geprägt ist. Wenn das Bedürfnis, sich durch Nachahmung des Städters von anderen zu unterscheiden, gnadenlos mißbilligt und unterdrückt wird, weil man in ihm eine Herausforderung und einen erklärten Bruch mit der Gruppe erblickt, dann nicht zuletzt deshalb, weil diese Gesellschaft sich im Belagerungszustand erlebt und ihre Existenz verteidigt, indem sie sich versagt, der Lockung städtischer Werte nachzugeben.
Der Differenzierungsprozeß, den die Dorfgemeinschaft stets zu verhindern oder zu kontrollieren sucht, kann sich innerhalb der städtischen Gesellschaft frei entfalten. In der Logik der Bestätigung durch das Gegenteil fungieren die Unterschichten der großen Städte als fester Vergleichsmaßstab oder, genauer, als Kontrastmittel, was sich damit erklären läßt, daß die Photographie, anders als die sublimen kulturellen Tätigkeiten, anscheinend allen zugänglich ist. Die Praxis der Unterschichten, die unmittelbar und ausnahmslos den traditionellen