Oswald wusste, er sollte eigentlich nicht sagen, was er sagen wollte, aber er tat es trotzdem. „Bens Vater hat einen Job bekommen, in dem er sogar mehr verdient als früher in der Fabrik.“
Sein Vater umfasste das Steuerrad fester. „Ja, und Bens Vater musste 500 Meilen weit wegziehen, um diesen Job zu bekommen.“ Seine Stimme klang gepresst, und Oswald sah, dass seine Kiefermuskeln angespannt waren. „Deine Mutter und ich haben viel darüber geredet, aber wir haben uns entschlossen, nicht umzuziehen, und zwar, weil deine Großmutter hier lebt und hin und wieder Hilfe braucht. Hier ist unser Zuhause, mein Junge, und die Dinge sind nicht perfekt, aber wir müssen das Beste daraus machen.“
Oswald spürte, dass er, wenn er seiner schlechten Laune weiter freien Lauf ließ, Stubenarrest riskierte. Aber warum bekamen manche Leute nur das Beste vom Besten, während sich andere mit der Bücherei und billiger Pizza zufriedengeben mussten? „Du schubst mich jeden Tag wie Müll aus dem Auto. Wenn das das Beste ist, dann möchte ich nicht sehen, was das Schlimmste ist!“
„Findest du das nicht ein bisschen zu theatralisch …?“
Oswald wartete nicht ab, um sich die Worte seines Vaters bis zu Ende anzuhören. Er sprang aus dem Wagen und knallte die Tür hinter sich zu.
Sein Vater brauste davon und war wahrscheinlich erst einmal froh, ihn los zu sein.
Wie er vermutet hatte, war das Buch, das er lesen wollte, immer noch nicht zurückgegeben worden. Er blätterte ein paar Zeitschriften durch – mit exotischen Tieren aus dem Dschungel, die ihm normalerweise gefielen, aber heute halfen auch die nicht. Als ein Computerplatz frei wurde, nahm er seine Kopfhörer und sah sich ein paar YouTube-Videos an, aber heute war ihm einfach nicht zum Lachen zumute.
Mittags saß er dann mit seinem Stück Margherita und seiner Limo in Jeff’s Pizza. Jeden Tag eine Margherita. Wenn sein Vater nicht so geizig wäre, würde er ihm einen Dollar mehr geben, damit er sich wenigstens noch eine Beilage kaufen konnte. Aber nein, es musste die billigste Pizza sein, die zu bekommen war. Sicher, das Geld war knapp, aber würde ein Dollar mehr pro Tag ihren Ruin bedeuten?
Als Oswald sich umsah, wurde ihm klar, dass Ben recht hatte. Jeff’s Pizza war tatsächlich gruselig. Da waren die schattenhaft erkennbaren und überstrichenen Figuren an den Wänden zu erahnen, und es gab das staubige, verlassene Bällebad. Und wenn er recht darüber nachdachte, war auch Jeff irgendwie gruselig. Er sah aus, als sei er hundert, war allerdings wahrscheinlich gerade mal dreißig. Aber mit diesen blutunterlaufenen Augen mit den schweren Lidern, der fleckigen Schürze, seiner langsamen Sprechweise und den entsprechenden Bewegungen wirkte er wie ein Zombie-Pizza-Bäcker.
Oswald dachte über den Streit mit seinem Vater am Morgen nach. Bald würde Vater ihm schreiben, dass er nach draußen zum Auto kommen solle. Heute würde es mal anders laufen. Heute würde Vater hereinkommen müssen, um ihn zu suchen.
Es gab einen perfekten Platz, um sich zu verstecken.
Oswald würde in das Bällebad steigen.
Die Bällegrube war tatsächlich ziemlich eklig. Offensichtlich seit Jahren unberührt, waren die Plastikkugeln mit grauem, fusseligem Staub überzogen. Aber sich dort zu verstecken, würde ein toller Streich sein. Sein Vater, der ihn wie die Wäsche für die Reinigung ablieferte und wieder einsammelte, würde tatsächlich aus dem Auto steigen und sich zur Abwechslung mal etwas bemühen müssen. Und Oswald würde es ihm nicht leicht machen.
Oswald zog die Schuhe aus. Sicher, das Bällebad war ekelhaft, aber dort hineinzusteigen wäre zumindest für heute mal eine Abwechslung.
Er kletterte in die Grube und spürte, wie die Bälle auseinanderrutschten, um ihm Platz zu machen. Er bewegte Arme und Beine. Es war ein bisschen wie beim Schwimmen, wenn man denn in trockenen Plastikkugeln schwimmen konnte. Bald berührten seine Füße den Boden der Grube. Einige der Bälle waren irgendwie klebrig, aber Oswald versuchte, nicht darüber nachzudenken warum. Wenn er seinen Vater reinlegen wollte, musste er vollkommen untertauchen.
Er holte tief Luft, als wolle er in einen Pool springen und ließ sich auf die Knie sinken. Nun war er bis zum Hals verschwunden. Er drehte sich um, bis er auf dem Boden der Grube saß. Sein Kopf verschwand ebenfalls zwischen den Bällen. Sie ließen ihm genug Platz, um zu atmen, aber es war dunkel und eng. Und es stank nach Staub und Schimmel.
„Bindehautentzündung“, hörte er seine Mutter sagen. „Du wirst eine Bindehautentzündung bekommen.“
Der Geruch war wirklich fürchterlich. Der Staub kitzelte ihn in der Nase. Er spürte, dass er gleich würde niesen müssen, aber er konnte seine Hand nicht schnell genug durch die Bälle nach oben zu seiner Nase bringen, um sie zuzuhalten. Er nieste dreimal und jedes Mal lauter.
Oswald wusste nicht, ob sein Vater schon nach ihm suchte, doch wenn er es tat, hatte das Niesen in der Bällegrube ihm wahrscheinlich verraten, wo Oswald sich befand. Außerdem war es zu dunkel da drin und zu ekelig. Er musste Luft schnappen.
Als er sich erhob, hörte er elektronisches Gepiepe und Kinder, die schrien und lachten.
Er brauchte ein paar Sekunden, bis sich seine Augen an die Helligkeit gewöhnt hatten, die plötzlich um ihn herum herrschte, an die blinkenden Lichter und die leuchtenden Farben. Verblüfft blickte er sich um. „Toto, ich glaube nicht, dass wir noch in Kansas sind.“
An den Wänden reihten sich große glänzende Spielekonsolen aneinander, von denen sein Vater immer aus der Kindheit erzählt hatte: Pac-Man, Donkey Kong, Frogger, Q*bert, Galaga. In einer von Neonlicht erleuchteten Maschine türmten sich blaue elfenähnliche Kreaturen und orangefarbene Katzen aus einem Zeichentrickfilm, die man sich mit einem mechanischen Greifarm angeln konnte. Er blickte hinunter auf die Grube und bemerkte, dass er umgeben war von kleinen Kindern, die in den auf einmal überraschend sauberen und in allen Farben leuchtenden Bällen spielten. Wie ein Riese überragte Oswald die Kinder. Er stieg aus dem Bällebad, um wieder in seine Schuhe zu schlüpfen, aber sie waren verschwunden.
In Socken stand er auf dem farbenfrohen Teppich und blickte sich um. Er sah viele Kinder in seinem Alter und jüngere, aber irgendetwas an ihnen war anders. Alle waren aufwendig frisiert, und die Jungs trugen Poloshirts in Farben, in denen sich so mancher nicht einmal begraben lassen würde – Pink oder Türkis. Das Haar der Mädchen war unglaublich dick, und ihre Ponys standen von ihrer Stirn ab wie eine Klaue. Sie trugen pastellfarbene Oberteile, die zu ihren pastellfarbenen Schuhen passten. Die Farben, die Lichter, der Lärm – seine Sinne waren völlig überlastet. Und was war das für eine Musik?
Oswald blickte sich um, weil er herausfinden wollte, woher sie kam. Auf der anderen Seite des Raums auf einer kleinen Bühne stand ein Trio aus animatronischen Tieren. Sie blinzelten mit ihren großen leeren Augen, öffneten und schlossen ihre Mäuler und ruckten gemeinsam im Rhythmus eines plärrenden Songs vor und zurück. Es waren ein brauner Bär, ein blaues Kaninchen mit einer roten Fliege und eine Art Vogelmädchen. Sie erinnerten Oswald an die mechanischen Tiere, die er in letzter Zeit immer gezeichnet hatte. Der Unterschied bestand nur darin, dass er sich nie hatte entscheiden können, ob die Tiere in seinen Zeichnungen nun niedlich waren oder unheimlich.
Diese waren jedenfalls unheimlich.
Allerdings schienen das etwa ein Dutzend kleiner Kinder, die vor der Bühne standen, das anders zu sehen. Sie trugen lustige Hüte wie auf einer Geburtstagsparty, auf denen Bilder der Figuren zu sehen waren, und sie tanzten und lachten und hatten offenbar viel Spaß.
Als dann der Duft von Pizza Oswald in die Nase stieg, begriff er.
Er befand sich immer noch in Jeff’s Pizza oder vielmehr darin, was Jeff’s Pizza einmal gewesen war, bevor Jeff den Laden übernommen hatte. Das Bällebad war neu und nicht abgesperrt, die Steckdosen an der Wand versorgten Spiele-Konsolen mit Strom und … Er wandte sich nach links. Dort befand sich ein großes Wandgemälde mit denselben Figuren, die gerade auf der Bühne „auftraten“: Der braune Bär, das blaue Kaninchen und das Vogelmädchen. Unter ihren Gesichtern stand Freddy Fazbear’s Pizza.
Oswald gefror das Blut in den