Befehle von oben. Franz Taut. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Franz Taut
Издательство: Bookwire
Серия: Zeitzeugen
Жанр произведения: Языкознание
Год издания: 0
isbn: 9783475543418
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Befehle.«

      »Schön«, sagte ich, obwohl das, was ich soeben gehört hatte, alles andere als schön war. »Gehen Sie jetzt erst mal zur Feldküche. Lassen Sie sich was Heißes zu trinken geben.«

      »Keine Zeit, Herr Leutnant«, gab der erschöpfte Melder zurück. »Muss weiter zur Dritten nach Uwarowka. Können Sie mir sagen, ob der Weg feindfrei ist, Herr Leutnant?«

      »Ich weiß es nicht – weiß überhaupt nichts«, musste ich zugeben. »Warum denn dieser Umstand? Warum funkt denn das Bataillon nicht?«

      »Ist ja alles im Eimer, Herr Leutnant«, antwortete der Kradmelder. »Die sind mit fünf Panzern in unser Kaff ’reingedonnert. Haben den Gefechtsstand in Brand geschossen. Herr Major Schilling – Herr Major ist gefallen.«

      Jetzt blieb mir doch die Luft weg.

      »Was sagen Sie da?«, brüllte ich den Mann an, der die allergeringste Schuld an dem trug, was geschehen war. »Wer, zum Teufel, hat Sie denn in Marsch gesetzt?«

      »Herr Leutnant Holzinger«, kam es zurück. »Er hat die Abwehr organisiert, und dann haben wir uns abgesetzt. War nicht mehr viel übrig vom Stab. Aber ich muss jetzt weiter, Herr Leutnant. Muss sehen, dass ich die Dritte erreiche, bevor es hell wird. Könnte sonst vom Russen vereinnahmt werden.«

      »Machen Sie’s gut«, sagte ich. »Halten Sie die Augen offen. Scheint allerhand unterwegs zu sein. Marschziel Kalatsch, haben Sie gesagt? Ist das denn richtig?«

      »Jawohl, Herr Leutnant«, bestätigte der Melder. »Der Befehl ist direkt vom Divisionsstab gekommen. Ein paar Minuten, bevor der Feind mit seinen Panzern da war. Sie sollen keine Zeit verlieren, Herr Leutnant, sofort abrücken. Herr Leutnant Holzinger hat es mir ausdrücklich aufgetragen.«

      Er trat auf den Starter und fuhr im gleichen Schneckentempo, wie er gekommen war, weiter durch den schweren, nassen Schnee. Der verschneite Weg, den er einschlug, führte nach Westen und war nur durch Stangen mit Strohwischen kenntlich. Mit Skiern hätte der Melder schneller vorwärtskommen können als mit dem Krad, dessen Antriebsrad immer wieder leer umging. Aber auch diesmal, wie im vergangenen Winter, gehörten Schneeschuhe nicht zur Ausrüstung der Infanterie. Später hatten wir etliche Paare davon in der Kompanie, aber die stammten vom Russen – von den Toten eines Skibataillons, die vor unseren Stellungen liegen blieben.

      Ich ging zum Gefechtsstand, um die nötigen Befehle zur Vorbereitung des Abmarsches zu geben. Als ich mir vor der Tür der Hütte den Schnee von den Filzstiefeln stampfte, kam einer der Männer angetrabt, die wir sicherheitshalber mit zwei MG am Südrand des Dorfes postiert hatten. Er war außer Atem und völlig aufgelöst.

      »Panzer«, brachte er keuchend hervor, »Panzer im Anmarsch.«

      Ich öffnete die Tür, gab Feldwebel Stamm Bescheid und spurtete so schnell, wie es der tiefe Schnee erlaubte, zu dem neuen Gefahrenpunkt.

      Unteroffizier Höhne, der die Sicherung befehligte, erwartete mich auf der Straße.

      »Es waren deutliche Panzergeräusche«, sagte er. »Aber seit ein paar Minuten ist es still. Vielleicht sind sie abgedreht. Die Karten, die der Russe hat, sind ja nicht besser als die unseren.«

      Ich nahm das Glas und hielt Ausschau. Der dichte Flockenfall verwehrte die Sicht, zumal es trotz der Schneehelle noch längst nicht Tag war.

      Auf einmal jedoch war es mir, als bewege sich etwas, eine einzelne Gestalt, langsam auf uns zu. Ich griff zur Maschinenpistole, brachte sie in Anschlag und rief, so laut ich konnte:

      »Stoj! Rukij wjerch!«

      »Verdammter Sauladen!«, kam es zurück. »Du Germanski oder Russki? Maul auf, sonst kracht’s!«

      »Hier sind Deutsche«, rief ich. »Wer sind Sie?«

      »Na ja«, versetzte der Fremde, der weißes Tarnzeug trug. »Warum denn nicht gleich?«

      Im selben Augenblick knallte es und Sekunden danach noch einmal. Zwei grüne Leuchtkugeln stiegen hoch und zerplatzten.

      Mit dem Ausruf »Hallo, Kumpels!« kam der Mann, der über eine kaum fassbare Selbstsicherheit verfügte, auf uns zu. Seine Kopfbedeckung war eine schwarze Panzermütze mit heruntergezogenem Ohrenschutz.

      »Bin ich also doch richtig«, sagte er.

      »Hoch erfreut, Meister«, gab ich zurück, mich seinem Ton angleichend. »Wäre es möglich, zu erfahren, wen Sie hier suchen? Vielleicht könnten Sie mir sogar Namen und Dienstgrad nennen?«

      Der andere lachte.

      »Klar, warum nicht? Ich bin Unteroffizier Kurz, Panzerregiment viernullzwo, zwote Abteilung, zwote Kompanie. Leicht zu merken, was? Und du, Kamerad?«

      »Leutnant Lemke«, sagte ich, »Kompanieführer und derzeit Kampfkommandant hier am Ort.«

      »Um so besser«, entgegnete der Unteroffizier, ohne sich erst lange mit einer Ehrenbezeigung aufzuhalten, und streckte mir die Rechte, die in einem Fausthandschuh steckte, freundschaftlich entgegen.

      »Tag, mein Bester«, sagte ich, ergriff die Hand und fragte: »Wo kommen Sie denn eigentlich her? Ungute Gegend für nächtliche Spaziergänge.«

      Wieder lachte der unerschütterliche Unteroffizier Kurz.

      »Ganz Ihrer Meinung, Herr Leutnant. Habe mein Wägelchen vorsorglich draußen geparkt. Wollte hier erst mal Umschau halten. Sind Einzelgänger seit gestern Abend. Der Russe hat schwer ’reingehauen. Vierzig gegen sechs ist ja auch nicht das richtige Verhältnis. Was haben Sie vor, Herr Leutnant? Stachliger Igel, bis der Kladderadatsch bereinigt ist?«

      »Wir rücken ab«, sagte ich. »Wenn ich mich nicht täusche, haben Sie einen Panzer zur Verfügung. Am besten wird wohl sein, Sie schließen sich uns an, Unteroffizier.«

      »Wäre zu überlegen«, meinte der Panzermann. »Wo soll’s denn hingehen? Richtung Heimat, wie?«

      »Irrtum«, sagte ich, »wir marschieren in Richtung Kalatsch.«

      »Kalatsch?«, bemerkte der Unteroffizier. »Sie erlauben doch, dass ich lache, Herr Leutnant? Vor Kalatsch steht der Russe.«

      »Auch recht«, sagte ich. »Dann gehen wir eben weiter nördlich über den Don und sehen zu, dass wir auf dem Ostufer nach Kalatsch kommen.«

      Unterdessen hatte der Panzer, den der schlagfertige Unteroffizier führte, wohl auf das Signal der beiden grünen Leuchtkugeln hin Fahrt aufgenommen. Massig, schon mit dem weißen Wintertarnanstrich versehen, walzte er durch den Schnee heran.

      Ich war erfreut über diesen Zuwachs. Der Infanterist oder, wie es neuerdings hieß, der Grenadier, schätzte den Rückhalt, den so ein stählerner Koloss gab, über alles.

      Als ich in den Gefechtsstand kam, hatte Feldwebel Stamm sich bereits in gewohnter Weise betätigt. Die Vorbereitungen zum Aufbruch waren in vollem Gange. Als Stamm hörte, dass wir einen Panzer als Begleitung haben würden, war auch er sichtlich erleichtert, zumal unsere Pak sich nahezu verschossen hatte und kaum mehr von großem Nutzen war.

      »Nur zu hoffen, dass uns der Russe nicht dazwischenfunkt«, meinte Stamm. »Die augenblickliche Ruhe kommt mir verdächtig vor.«

      Doch die Ruhe hielt an. Ungestört machte die Kompanie sich marschbereit.

      Warten und Stillstehen in unklarer Lage bringen den Soldaten aus dem Gleichgewicht, das er braucht, um standhalten zu können. Zudem saß der alten Mannschaft noch die Erinnerung an die Stützpunktstrategie des vergangenen Winters in den Knochen. Zu viele waren »verheizt« worden, nur weil von oben die Beweglichkeit der Kampfführung nach dem Rezept »Bleib, wo du stehst!« unterbunden worden war. Der Befehl zum Abrücken jedoch, gleichviel wohin, gab der absinkenden Stimmung neuen Schwung und Auftrieb.

      Wenn ich allerdings damals, am Morgen jenes 20. November, geahnt hätte, welches Riesenausmaß an starrsinniger Borniertheit dem großen Plan zu Grunde lag, dem sich alle beugten, würde ich mich nicht dazu bereitgefunden haben, das Vertrauen meiner Soldaten zu missbrauchen. Ich hätte, anstatt nach Osten zum Don