Simche Brauer erzählt seinem Sohn Erichim Schrebergarten Geschichten.
Sosehr die deutschsprachige Kultur und die Errungenschaften des Austro-Marxismus von ihm bewundert wurden, gelang es ihm doch nie, ein Wiener unter Wienern zu werden. Er trank keinen Alkohol, war absolut nicht sportbegeistert und bei Wienerwald-Ausflügen immer unpassend gekleidet. Mit seiner Arbeit und seiner Familie war er glücklich, was er hatte und was er war, genügte ihm. Das Wolfsrudel tauchte indes wieder auf und diesmal war es von der Tollwut befallen. Simche erkannte es nicht – Bänke nur für Arier, Straßen abbürsten, Ersparnisse konfisziert, Zusatznamen Israel und Sarah, Kinder aus der Schule geworfen. Simche wollte es nicht glauben: „Ein Gewitter wird vorübergehen. Das sind doch keine Kosaken, diese Menschen haben die allgemeine Schulpflicht eingeführt, haben Goethe und Schubert hervorgebracht, man wird sich wieder beruhigen.“ Aber auch die Kosaken haben einen Dostojewski und Tolstoi und Gorki hervorgebracht, und das hat sie nie gehindert, Judenkinder mit Lanzen aufzuspießen. Es war kein Gewitter, sondern eine Eiszeit.
Als die Werkstatt versiegelt war und man sich verstecken musste, begann eine hektische, hoffnungslose Suche nach einem Fluchtweg. Amerika wollte ein Affidavit sehen, die Schweizer schickten zurück nach Dachau, was sich in ihr Land hineingeschlichen hatte, Shanghai war offen für Juden, aber die Reisekosten unerschwinglich. Also auf über die grüne Grenze – zurück in die ungeliebte östliche Heimat. Simche schaffte es im letzten Moment, die Familie blieb hängen. In Riga ging er sofort daran, eine neue Existenz aufzubauen. Das Verhängnis aber rollte schneller. Bald stand er vor der Alternative, wieder in die Hände der Nazis zu geraten oder nach Russland zu fliehen, was mit einem deutschen Pass Sibirien bedeutete.
Wohl meldete sich die gute Stimme der Erkenntnis: „Deine fünfzig Jahre sind noch nicht ganz um. Menschen mit kranken Füßen gibt es auch in Sibirien.“ Aber Simche wollte nicht hören. Sibirien ist weit und Russland ist grausam. In Deutschland dachte er, muss früher oder später die Kultur obsiegen. Dass es Gaskammern gibt, konnte oder wollte er nicht glauben, das Knurren des Wolfsrudels wollte er nicht hören. Er blieb in Riga. Im Herrschaftsbereich der Deutschen träumte er, gäbe es vielleicht noch eine Möglichkeit, seine Familie wiederzusehen oder zumindest eine Nachricht zu erhalten. Im Jahr 1944 aber waren seine fünfzig Jahre um. Er stand wieder im kalten Mondlicht auf dem hart gefrorenen Schnee. Zum Skelett abgemagert, hatte ihm jemand eine zerschlissene Decke umgehängt. Der Platz war wieder umzäunt, diesmal mit Stacheldraht. Vor ihm stand der Leitwolf im schwarzen Ledermantel und deutete mit der Pfote auf das Tor mit der Aufschrift „Waschraum“. Gestützt auf einen Menschen schwankte Simche zum Eingang. „Hast du noch etwas zu sagen?“, fragte der Mensch. „Wenn du meinen Sohn in Israel triffst, sag ihm, meine letzten Gedanken galten meiner geliebten Familie.“ Der Mensch hat seinen Wunsch erfüllt.
Die Mutter
Der Name Sekirnjak kommt aus dem Serbokroatischen und bedeutet so viel wie Wurfaxt (Zakan). Das hebräische Wort Sakin (Messer) hat wohl etwas damit zu tun. Josef Sekirnjak war Schriftsetzer, ein Elite-Beruf in der Arbeiterklasse der damaligen Zeit. Dies bedeutete keineswegs, dass er wohlhabend war. Mit Müh und Not konnte er seine sieben Kinder über die Runden bringen. Sein Interesse galt nicht dem Kaiser, sondern der sozialistischen Bewegung, und so waren auch seine Kinder Naturfreunde, Kinderfreunde, Abstinenzler, Besucher der Volkshochschulen et cetera. Die drei Töchter waren Pionierinnen im Tragen moderner Kleider: „knöchelfrei!“ Man spielte Klavier, man sang in allen möglichen Chören und man hatte einen Schrebergarten, der als Vitaminlieferant von großer Bedeutung war. Sport und Naturliebe standen hoch im Kurs, auch bei den jüdischen Zweigen des Stammbaums. Hermine, die Zweitälteste, war eine Vorzugsschülerin in allen Fächern, hochmusikalisch und hatte eine wunderbare Altstimme. Sie war groß, hatte dunkle Augen und Haare, aber schlechte Zähne, unter denen sie sehr litt. Ihre wohlgeformten Beine vererbten sich bis ins vierte Glied der Familienkette. Sie hätte eine ausgezeichnete Musiklehrerin oder Ärztin werden können, aber nicht als eines von sieben Kindern eines Proletariers. Mit 14 begann sie zu arbeiten und ihre Fähigkeiten wurden rücksichtslos ausgebeutet, was von ihr aber willig akzeptiert wurde. Im Volksheim Ottakring lernte sie den Immigranten Simon Brauer kennen. Beide besuchten einen Kurs für deutsche Literatur, und Bücher waren auch die erste Brücke, die das Paar zueinander führte. Die Lebensbedingungen der 20er Jahre des 20. Jahrhunderts waren äußerst schwierig, und es dauerte acht Jahre bis es gelang, einen gemeinsamen Hausstand zu gründen. Simon machte Schuhe, Hermine führte Buch, lieferte die Ware mit der Straßenbahn aus, besorgte den Haushalt und brachte zwei Kinder zur Welt. Im Jahr 1934, als es in Österreich zu Kampfhandlungen kam und vom nahen Arbeiterheim her Schüsse zu hören waren, stopfte Hermine die Fenster mit Matratzen zu und beweinte die verloren gegangene Demokratie. Ihr fünfjähriger Sohn, der sich mit einem Tschako aus Krepppapier auf ein Faschingsfest im Kindergarten vorbereitet hatte, musste erleben, dass dieses Fest abgesagt wurde. Was Wunder, dass aus dem Buben ein glühender Antifaschist wurde.
Im Sommer fuhr man aufs Land. Der Exadel nach Bad Ischl, das Großbürgertum auf den Semmering, die Mittelschicht und gehobene Arbeiterklasse in die Umgebung der Stadt, die armen Teufel in die Lobau. Die Familie Brauer, ihrer sozialen Position entsprechend, besuchte teils Umgebung, teils Lobau. Was man heute als Vororte von Wien bezeichnen würde, war in den 30er Jahren wie eine Reise in die Karibik. Nach Alland fuhr man beispielsweise mit Straßenbahn, Bahn und Bus sechs bis sieben Stunden. Dort sprachen die Leute bereits einen anderen Dialekt als in Wien, waren anders gekleidet und besaßen überhaupt eine andere Kultur. Gewohnt wurde bei Bauern oder Kleinhäuslern, die einen Teil ihrer kleinen Wohnstätten vermieteten. Es roch interessant nach Stall und der kleine Sohn begann sogleich mit Feuereifer Kühe und Ziegen zu zeichnen.
Einquartiert waren auch Cousine und Cousin Spitzer und natürlich die ältere Schwester des Buben. Der Cousin war um einige Jahre älter als die Brauer-Kinder und daher bewundertes Vorbild und Chef aller Spiele und Unternehmungen. In der Umgebung von Alland gibt es eine Tropfsteinhöhle, deren Besuch die Kinder in eine Art „Tropfstein-Ekstase“ versetzte. Es wurden sofort Mineraliensammlungen angelegt und man zog los, um auf der Geröllhalde des Berges Tropfsteine zu suchen. Der zeichnende Sohn wurde als der Jüngste nur sehr ungern mitgenommen, da seine Anwesenheit die nach Erwachsen-Sein dürstende Gesellschaft an den soeben überwundenen Kindergarten erinnerte. Aber Gott ist nicht immer ungerecht und der Kleine fand als Einziger zwei Tropfsteine, einen großen und einen kleineren. Der Bub, bereits wissend, in welche Welt er hineingeboren worden war, fürchtete – und das mit Recht –, dass ihm die Großen die Steine wegnehmen würden. Andererseits wollte er sich natürlich mit seinem Fund wichtig machen. Er löste das Problem, indem er den großen Stein versteckte und sich mit dem kleinen wichtig machte. Wie erwartet fielen alle über ihn her: „Du bist klein, du verstehst nichts von Steinen, du hast keine Sammlung, du bist blöd, gib uns den Stein.“ Ein Machtwort der Mutter machte den Kleinen zum alleinigen und rechtmäßigen Besitzer des Steins. Die Rache des Cousins war schrecklich. Nachdem er die Kleinheit des Steins entsprechen betont hatte, gab er dem Buben folgenden Rat: „Leg den Stein unter die Wasserleitung und lass sie tropfen, morgen Früh ist der Stein größer.“ Der Rat wurde von dem Buben natürlich mit Begeisterung befolgt und nach einer Nacht unruhiger Tropfsteinträume eilte er voll freudiger Hoffnung zur Wasserleitung. Es war nicht die letzte Enttäuschung, die das Leben für ihn bereithielt, aber sicher eine der größten. In seiner Not machte er Folgendes: Er versteckte den kleinen Stein und legte den großen unter die Wasserleitung. Es war das erste Mal in seinem Leben, dass er den Triumph des gelungenen Betrugs empfand. Jahre später gestand der Cousin, dass er den Trick sehr wohl durchschaut hätte, aber den Sieg des Kleinen respektieren wollte. 1939 floh dieser Verwandte über die Schweiz nach England und kehrte 1945 als englischer