Das Time Magazine verdächtigte ihn, er fülle die Konzertsäle »mit Hilfe eines Sexappeals, den er von sich gibt wie ein exaltierter Zitteraal«. Seine Gegner – für Kritikerlegende Joachim Kaiser die »vereinigten Gehörlosen« – meinten, er inszeniere beim Dirigieren immer nur sich selbst. Er tanze auf dem Podium nur herum. Kritiker Joachim Kaiser sah es anders: »Bei Bernstein erlebt man ein Fluidum von Wahrheit und Leidenschaftlichkeit. Seine Unmittelbarkeit, seine dramatische Vergegenwärtigungskraft, ist das Gegenteil von bloßer Selbstdarstellung.«
Längst wurden Bücher und Dissertationen über das Leben Bernsteins verfasst. Wer sich in das Leben des Universalgenies vertiefen will, dem sei die Leonard Bernstein Biographie (Albrecht Knaus Verlag) von Humphrey Burton empfohlen. Diesem umfassenden Werk verdanke auch ich viele Informationen. Rund dreißig Jahre arbeitete der Brite Burton – Schriftsteller, Dozent an der Universität von Cambridge, BBC-Direktor und Regisseur klassischer Musikdokumentationen – an dem 800 Seiten starken Band.
Das vorliegende Buch über Leonard Bernstein, der 2018 seinen hundertsten Geburtstag feiern würde, ist kein musikwissenschaftliches Werk. Accelerando und Adagio, Pizzicato und Presto, Staccato und Stringendo sind nicht die Bausteine dieses Bandes. Ich habe versucht, bunte Mosaiksteine aus dem Leben einer der prägendsten Persönlichkeiten des 20. Jahrhunderts zusammenzutragen. Dabei brachten mir unter anderem in Gesprächen und Beiträgen Gundula Janowitz und Christa Ludwig, Kurt Rydl und Otto Schenk den Menschen und Musiker Leonard Bernstein näher.
Dieses Bernstein-Buch wurde auch zu einem Kaleidoskop des 20. Jahrhunderts. Kaum eine Zeit hat die Geschichte der Menschheit so geprägt wie die Jahre zwischen 1900 und 1999, einem Jahrhundert der Kriege, des Holocaust und des Kommunismus, der Entdeckungen, der Massenkommunikation und des gesellschaftlichen Wandels.
Leonard Bernstein war ein Phänomen musikalischer, aber auch menschlicher Vielseitigkeit. Dieses Buch will auch die Geschichte des Humanisten und Idealisten Bernstein, der einen Teil seiner Gage Amnesty International und dem Kinderhilfswerk UNICEF spendete, erzählen.
Ich habe Leonard Bernstein immer wieder in Wien und Salzburg getroffen – und war beeindruckt von einem großen Musiker und einem ganz großen Menschen.
Michael Horowitz, Herbst 2017
* Sämtliche Zitate, die den Kapiteln vorangestellt sind, stammen von Leonard Bernstein.
KAPITEL 1
Im Armenhaus der Monarchie
Um sich auf die Suche nach der Wahrheit begeben zu können, muss man trunken von der Fantasie sein.
Beim Pianisten Vladimir Horowitz, mit dem der Autor dieses Buches nicht verwandt ist, liegen Dichtung und Wahrheit nah beieinander. Vladimirs Vater besaß auch viel Fantasie. Um seinem Sohn den Militärdienst zu ersparen und ihm eine Ausreisegenehmigung zu verschaffen, hat ihn der jüdische Elektroingenieur um ein Jahr jünger gemacht. Auch der offizielle Geburtsort Kiew trifft nicht zu. Vladimir wurde in der kleinen, von Pogromen heimgesuchten Stadt Berditschew geboren. Die Familie Gorowitz – auch den Namen änderte der Vater später in Westeuropa – zog erst nach der Geburt Vladimirs in das Zentrum der Ukraine, nach Kiew, um. Wenn Wolodja, das gehätschelte Musikgenie, ruhte, trugen die Eltern Filzpantoffeln. Seine Launen und melancholischen Anwandlungen wurden im Hause Horowitz gerne geduldet – man war selig, ein musikalisches Wunderkind in der Familie zu haben. Als Fünfzehnjähriger musste er erleben, dass Bolschewiken den Flügel aus dem ersten Stock des väterlichen Hauses stürzten. Das Leben wurde immer gefährdeter und gefährlicher.
Auf dem Konservatorium in Kiew erregte Vladimir sehr bald Aufsehen und Bewunderung, trotz Hochmut, Wutanfällen und entrückten Eigenheiten. Komponist Sergei Rachmaninow, selbst ein gefeierter Pianist, war vom kapriziösen Einzelgänger begeistert und meinte 1931: »Bis ich Horowitz hörte, verstand ich nichts von den Möglichkeiten des Klaviers …« Ein Jahr später fand Vladimir die Begegnung seines Lebens: Der in die USA ausgewanderte »liebe Gott unter den Klavierspielern« trifft Arturo Toscanini. Bald ist Vladimir Horowitz sein Lieblingssolist – und Schwiegersohn und entwickelt sich zu einem der schillerndsten Musiker des 20. Jahrhunderts.
Launen, Marotten und das ewige Flirten mit der Einmaligkeit seiner Genialität prägen sein Leben: »Wenn ich spiele, bin ich Engel und Teufel zugleich.« Er schläft bis mittags in komplett verdunkelten Räumen und gibt Konzerte nur um vier Uhr nachmittags. Der bekennende Hypochonder reist mit einer Mini-Wasserdesinfektions- und Entkalkungsanlage um die Welt, mit eigenem Bettzeug und tiefgefrorenen Hühner- und Seezungenfilets. Das Musikgenie aus dem Stetl in Galizien pflegt ein Leben lang das Image vom kapriziösen Klavierakrobaten: »Ich fühle mich wie ein Gladiator, der im Kolosseum vor einem blutgierigen Publikum kämpfen muss.« Als eine Verehrerin von Vladimir Horowitz auf der New Yorker Fifth Avenue fragte, ob sie ihn berühren dürfe, schäkerte der Adorierte: »Das kommt darauf an, wo …«, und ließ sich die Hände küssen. Im Mai 1987 tröstet das 82-jährige »senile Wunderkind« Besucher, die für das Konzert im Großen Musikvereinssaal keine Karten mehr ergattern konnten: »In fünfzig Jahren komm’ ich sowieso wieder …« Zwischen seinem ersten und zweiten Wien-Gastspiel waren sogar 52 Jahre vergangen.
Die Erinnerung an Leid, Demütigung und Unterdrückung im »Armenhaus der Monarchie« blieb für viele jüdische Künstler ein Leben lang präsent. Und so mancher versuchte, traumatische Erinnerungen, die tragische Familiengeschichte im Stetl, ein Leben lang zu kompensieren. Sie blieben »überall als Fremdling kenntlich, das Pathos des Außenseiters im Herzen«, wie es Thomas Mann 1907 formulierte, von Ängsten geplagt, von Ehrgeiz getrieben, von Depressionen gepeinigt. Man versuchte oft, das Leid der Kindheit, der Jugend wettzumachen: durch entrückte Besessenheit, durch manische Lebensgier, durch hemmungslose Exzesse. Oft auch hinter einer Maske der Arroganz in einem prallen, wilden, glanzvollen – und oft traurigen – Leben.
In Polen und Russland mussten während der ersten Pogrome zwischen 1881 und 1914 rund drei Millionen Juden ihre Heimat verlassen. Fast jeder Dritte davon war Musiker. Jüdische Emigranten, die während der ersten drei Jahrzehnte des 20. Jahrhunderts im westlichen Musikbetrieb für Furore sorgten, waren die Dirigenten Otto Klemperer, Fritz Reiner, George Szell und Bruno Walter und Instrumentalisten wie Jascha Heifetz und Vladimir Horowitz, Nathan Milstein und Artur Rubinstein, Menschen und Musiker voller Witz, Sentimentalität und Schwermut, oft auch gepeinigt von inneren Kämpfen und Zerrissenheit, mitunter auch von Beziehungsschwierigkeiten.
Die »Spezialität der Melancholie« (Joseph Roth) versuchte auch Vladimir Horowitz ein Leben lang zu überwinden. Er stammte aus dem »wilden Osten«, dem äußersten Nordosten der Donaumonarchie, wie auch Moses Joseph Roth, der Poet des sterbenden Habsburgerreichs, der in der galizischen Provinzstadt Brody geboren worden war. Bis zur russischen Grenze waren es kaum zehn Kilometer, aber mehr als 800 in die imperiale Hauptstadt Wien. Von 1772 bis 1918 war Galizien das größte Kronland der Monarchie. Seit dem ausgehenden 19. Jahrhundert herrschte hier bittere Armut, jährlich starben mehr als 50 000 Menschen den Hungertod.
Seine literarischen Arbeiten verfasste Moses Joseph Roth als Joseph Roth. Wollte er durch das Weglassen des Vornamens Moses, den er seinem Urgroßvater, einem Steinmetz, verdankte, nicht als Jude erkennbar sein? Doch seine Heimat in Galizien an der österreichisch-russischen Grenze ließ den ruhelos durch die Welt ziehenden Joseph Roth nie los. Der auch hier geborene Schriftsteller Karl Emil Franzos nennt Galizien, den letzten Vorposten europäischer Kultur, einen von polnischen Feudalherren beherrschten, fruchtbaren Landstrich, »Halbasien«. Deutsche, Armenier, Ungarn und viele andere Volksgruppen prägten den Alltag. »Der Wind, der über Galizien weht, ist bereits der Wind der Steppen, bereits der Wind von Sibirien«, schrieb Joseph Roth.
Immer