»Hm!«, sagte Kemp, der nicht länger auf Griffin hörte, sondern auf das Öffnen und Schließen der Haustür lauschte.
»Es scheint mir, Griffin«, sagte er, um seine Unaufmerksamkeit zu verbergen, »dass Ihr Verbündeter in eine schwierige Lage käme.«
»Niemand wüsste, dass er mein Verbündeter wäre«, erklärte der Unsichtbare eifrig. Und dann plötzlich: »Pst! Was ist das unten?«
»Nichts«, erwiderte Kemp und begann laut und schnell zu sprechen. »Ich billige dies nicht, Griffin«, sagte er. »Verstehen Sie mich wohl, ich billige dies nicht. Warum wollen Sie sich in einen so feindlichen Gegensatz zu Ihren Mitmenschen stellen? Wie können Sie hoffen, glücklich zu werden? Geben Sie Ihrem Wunsche nach Einsamkeit doch nicht nach. Veröffentlichen Sie Ihre Entdeckungen – ziehen Sie die Welt – oder doch die Nation in Ihr Vertrauen. Stellen Sie sich vor, was Sie mit einer Million eifriger Mitarbeiter bewirken könnten – – –«
Der Unsichtbare unterbrach ihn, den Arm ausstreckend. »Ich höre Schritte die Treppe heraufkommen«, sagte er.
»Unsinn!«, meinte Kemp.
»Lassen Sie mich sehen«, sagte der Unsichtbare und näherte sich mit ausgestrecktem Arm der Tür.
Und dann jagten sich die Ereignisse mit unglaublicher Schnelligkeit. Kemp zögerte einen Augenblick, dann stellte er sich ihm in den Weg. Der Unsichtbare fuhr zusammen und stand still. »Verräter!«, schrie die Stimme, und plötzlich öffnete sich der Schlafrock und der Unsichtbare begann sich zu entkleiden. Kemp erreichte mit drei Schritten die Tür, als der Unsichtbare mit einem lauten Ausruf aufsprang. Kemp riss die Tür auf.
Zugleich hörte man das Geräusch eilends sich nähernder Schritte und Stimmengewirr von unten.
Mit einer schnellen Bewegung warf Kemp den Unsichtbaren zurück, sprang beiseite und schlug die Tür hinter sich zu. Den Schlüssel hatte er schon früher von außen ins Schloss gesteckt. Im nächsten Augenblick wäre Griffin im Studierzimmer gefangen gewesen – hätte sich nicht ein geringfügiger Umstand ereignet. Der Schlüssel war am Morgen hastig hineingeschoben worden. Als Kemp die Tür zuschlug, fiel er auf den Teppich.
Kemp wurde kreideweiß. Mit beiden Händen umklammerte er die Türklinke. Einen Augenblick hielt er sie fest zu. Dann gab sie sechs Zoll weit nach. Aber es gelang ihm, sie wieder zu schließen. Das zweite Mal öffnete sie sich einen Fuß weit und der Schlafrock zwängte sich in die Öffnung. Unsichtbare Finger umklammerten seinen Hals, sodass er die Türklinke loslassen musste, um sich zu verteidigen. Er wurde zurückgedrängt und mit Gewalt in einen Winkel des Ganges geschleudert. Der Schlafrock flog über ihn hinweg. In der Mitte der Treppe stand der Empfänger von Kemps Brief, Oberst Adye, Chef der Polizei in Burdock. Verblüfft starrte er auf das plötzliche Erscheinen Kemps und den außergewöhnlichen Anblick von leer durch die Luft fliegenden Kleidern. Er sah, wie Kemp niedergeworfen wurde und sich wieder zu erheben suchte. Er sah ihn vorwärts eilen und dann wuchtig zusammenstürzen.
Dann erhielt er plötzlich selbst einen heftigen Stoß. Durch ein Nichts! Es schien, als ob ein schweres Gewicht sich auf ihn lege und er wurde kopfüber die Treppe hinunterbefördert. Ein unsichtbarer Fuß trat auf seinen Rücken, geisterhafte Fußtritte gingen die Treppe hinab, er hörte die beiden Schutzmänner in der Halle laut schreien und die Haustür heftig zuschlagen. Ganz verwirrt setzte er sich auf. Er sah, wie Kemp mit blutenden Lippen und geschwollenem Gesicht, einen roten Schlafrock im Arme, die Treppe herunterwankte.
»Mein Gott!«, rief Kemp, »das Spiel ist aus! Er ist fort!«
25. Kapitel – Die Verfolgung des Unsichtbaren
Es dauerte geraume Zeit, ehe es Kemp gelang, Adye den Verlauf der Ereignisse der letzten Minuten zu erklären. Sie standen auf dem Gange und Kemp sprach schnell und hastig. Endlich begann Adye die Lage zu begreifen.
»Er ist wahnsinnig!«, sagte Kemp. »Er ist der verkörperte Egoismus, ohne eine Spur menschlichen Fühlens. Er denkt an nichts, als an seinen eigenen Vorteil, seine eigene Sicherheit. Ich habe heute Morgen eine Geschichte solch brutaler Selbstsucht mit angehört … Er hat Menschen verwundet. Er wird morden, wenn wir ihn nicht daran hindern können. Er wird eine Panik verbreiten. Nichts kann ihn aufhalten. Jetzt geht er los – wütend!«
»Wir müssen ihn fangen«, sagte Adye, »das ist gewiss.«
»Aber wie?«, rief Kemp und entwickelte einen plötzlichen Ideenreichtum. »Sie müssen sofort beginnen, Sie müssen jeden verfügbaren Mann dazu verwenden und ihn hindern, die Gegend zu verlassen. Sobald er einmal fort ist, wird er mordend und verwundend durch das Land ziehen. Er träumt von einer Schreckensherrschaft. Einer Schreckensherrschaft, sage ich Ihnen. Sie müssen die Bahnlinien, die Straßen und die auslaufenden Schiffe bewachen lassen. Die Garnison muss helfen. Sie müssen um Hilfe telegrafieren. Das einzige, was ihn vielleicht hier halten kann ist die fixe Idee, wieder in Besitz einiger Notizbücher zu gelangen, die er für wertvoll hält. Ich werde Ihnen das später erzählen. Auf der Polizeistation befindet sich ein Mann, namens Marvel.«
»Ich weiß es«, sagte Adye. »Diese Bücher – ja. Aber der Landstreicher …«
»Sagt, er habe sie nicht. Aber er glaubt doch, dass sie der Landstreicher hat. Und man muss ihn am Essen und Schlafen hindern. – Tag und Nacht muss die Gegend nach ihm durchsucht werden. Alle Lebensmittel müssen eingesperrt und in Sicherheit gebracht werden, überhaupt jede Nahrung, sodass er Gewalt anwenden muss, um dazu zu gelangen. Die Häuser müssen verrammelt werden. Der Himmel sende uns kalte Nächte und Regen! Das ganze Land muss die Jagd aufnehmen. Ich sage Ihnen, Adye, er ist eine Gefahr, ein Unglück – bevor er gefangen und in Sicherheit gebracht ist, kann man nur mit Schrecken an die Dinge denken, die geschehen können.«
»Was könnten wir sonst noch tun?«, sagte Adye. »Ich muss die Organisation sofort in die Hand nehmen. Aber wollen Sie nicht mitkommen? Ja – kommen Sie doch auch! Kommen Sie, wir müssen eine Art Kriegsrat halten – an