Das war ihm wohl ganz gleichgültig, auf das Urteil der Welt hatte er niemals viel gegeben. Dort in Zürich mochte auch der Verkehr von jungen Männern und Mädchen freier sein, als bei ihnen. Und sie war ja auch nicht mehr jung. Hielt er sie für so ganz ungefährlich? – Aber wie würde man in der Heimat über sie urteilen?
Immer hatte sie geglaubt, der große Mensch, der heroischer Entschlüsse fähig sei, schlafe nur in ihr. Jetzt rief Martin ihn mit starker Stimme an. Nun musste es sich zeigen, ob er überhaupt noch da war – nicht längst verschrumpft und verdorrt.
Es war schauerlich aufregend und anziehend, sich das vorzustellen: Alle Welt hielt sie für eine Gefallene – nur sie selbst trug das Bewusstsein ihrer kühlen Reinheit in sich. Und Martin, der hatte natürlich eine unbegrenzte Hochachtung vor der stillen Kraft, mit der sie, allen Verläumdungen zum Trotz, den gewählten Weg weiter schritt. Solche Frau war ihm denn doch noch nicht vorgekommen.
Er bat sie um Liebe – bat sie immer wieder – flehte – wurde leidenschaftlich … Sie sah ihn vor sich wie nach Eugeniens Trauung, den Kopf in die Gardine gepresst – schluchzend, durchschüttelt von wildem Verlangen …
Aber in eine bürgerliche und nun gar in eine kirchliche Trauung würde er wohl niemals einwilligen.
Gott sei Dank – sie liebte ihn nicht …
Nur irgendwie kam ihr der Wunsch, ihre Wange gegen seine Hand zu lehnen, sich von dieser kräftigen weißen Hand über Stirn und Brauen streichen zu lassen.
Von solchen weiblichen Schwächen durfte sie nicht träumen, wenn sie es wagen wollte, ihren Plan auszuführen.
Nun war es mit dem Schlaf in der Nacht überhaupt zu Ende.
XIV.
»Die Mädchen mit Talent sind doch zu beneiden«, klagte Agathe ihrem Vetter. »Jedermann findet begreiflich, dass sie es ausbilden. Sogar die arme steife Frau von Henning hat ihre Tochter nach Paris gehen lassen. Fragt mich mein Vater, was in aller Welt ich in Zürich tun will – ich habe eigentlich keine Antwort. Und wer weiß, ob ich mich dort nicht noch überflüssiger fühle als zu Haus. Zwar – es ist schon wunderschön, einmal sein eigener Herr zu sein!«
»Das wollt’ ich meinen«, rief Greffinger und lachte herzlich.
Agathe war ungefähr in der Stimmung, in der sie als Kind auf den Ketten am Kasernenplatz gesessen und mit den Beinen gebaumelt hatte – ein wenig ängstlich, ein wenig beklommen, aber doch so heimlich frech und froh.
Sie saß neben Martin auf dem Deck des Dampfers. Durch das blau aufschäumende Gewässer rauschte ihr Fahrzeug dem jenseitigen Seeufer entgegen.
Agathe wollte mit ihrem Vetter das Hörnli besteigen. Man sollte von dem Felsplateau schon auf mäßiger Höhe einen herrlichen Rundblick genießen. Längst war die Partie geplant. Aber mit Papa und Martin und Gerichtsrats – nein. von der Zusammensetzung versprach Agathe sich nicht viel Vergnügen.
Nun hatte Papa einen zweitägigen Ausflug mit dem Professor und ein paar anderen Herren unternommen. Martin lockte Agathe auf ihrem Morgenspaziergang weiter und weiter, bis zum Ufer. Dort lag der Dampfer bereit. Und Agathe hatte ihm selbst den Vorschlag gemacht, mit ihr hinüber zu fahren.
»Du fängst ja schon an. Dich zu emanzipieren«, rief er fröhlich.
Agathe bedauerte, dass das Dampfschiff nicht gleich bis nach Zürich fuhr. Heut wäre es ihr leicht geworden, ihrer ganzen Vergangenheit, Vater und Freunden und solidem Ruf und allem Lebewohl zu sagen.
Sie waren beide sehr vergnügt und schwatzten lustige Torheiten. Martin richtete die verfängliche Frage an Agathe, warum sie nicht geheiratet – sie hätte doch gewiss viel Körbe ausgeteilt. Agathe schüttelte den Kopf. – Sie wäre gewiss immer zu abweisend gegen die Männer gewesen? Er erzählte ihr von einem Gymnasiasten, der sich die Buchstaben A. H. mit einer Stecknadel und blauer Tinte auf die Brust tätowiert habe. Agathe plagte ihn um den Namen. Er verriet ihn nicht, fügte nur hinzu: »Ich war es aber nicht.«
Agathe glaubte doch, dass er es gewesen.
Martin versprach ihr, wenn sie auf dem Hörnli wären, sollte sie Asti zu trinken bekommen. Er betrug sich heut überhaupt recht wie ein junger Mann, dem der Kopf voll Tollheiten steckt. Obenauf dem Hörnli schrieb er ins Fremdenbuch des Gasthauses: Mark Anton Grausiger, Wäschefabrikant und Gattin. Darüber geriet Agathe ins Kichern wie ein Schulmädchen.
Vor ihnen lag in Totenstille und Mittagsduft die Kette der schneebedeckten Gebirge, der ungeheuren Felsenmassen, deren Farben im Lichtglanz aufgelöst waren. Tief im Tal reckten dunkle Wälder sich zum Wasser nieder, und in fahlem Blau schlummerte der glatte See. Nussbäume gaben Schatten über ihren Köpfen, und die Waldrebe kletterte an den Stämmen empor, rankte ihre zierlichen Klammerzweige mit den weißen Blüten von Ast zu Ast. Aus einem dunklen Gestrüpp von Lärchen und Tannen, durch das der Weg sich emporwand, hauchte es zuweilen wie ein kühler, duftender Atemzug über sie hin. Dort blühten Alpenveilchen im Moose.
Es war heiß, und sie wurden müde und schweigsam im Ruhen und Schauen. Martin hatte den Hut abgenommen, sein Gesicht glühte, und er trocknete sich die Stirn mit dem Tuch.
Eine kleine Kellnerin brachte ihnen das Essen und bediente sie. Das frische Ding, rund, weiß und rot wie ein Borsdorfer Äpfelchen, war appetitlich anzusehen in ihrem schwarzen Sammetmieder und der hellen Schürze. Agathe und Martin beobachteten, dass ein plumper, fettglänzender Mann mit einem großen Siegelring am Zeigefinger, der seine Mahlzeit schon beendet hatte, die niedliche Kleine zu sich winkte, einen Stuhl herbeizog und sie zudringlich nötigte, sich neben ihn zu setzen und ein Glas Wein mit ihm zu trinken.
Sie antwortete ungeduldig; man konnte sehen, es war nicht das erste Mal, dass sie sich gegen ihn zu wehren hatte. Er versuchte, sie am Rocke festzuhalten, sie befreite sich unwirsch, schalt derb auf ihn ein und lief davon.
Agathe wandte die Blicke ab. Die Natur und ihre eigene frohe Stimmung waren ihr entweiht.
»Dem Kerl möcht’ ich die Wahrheit sagen«, grollte Martin zornig. »Was solch armes Mädel zu ertragen hat!«
Der dicke alte Philister ging, nachdem sein Versuch, einmal über die Stränge zu schlagen, missglückt war, verdrießlich schnaufend fort.
Wie schön! Nun waren sie allein und konnten unbefangen schwatzen.
Agathe hörte es gern, wenn Martin in Eifer geriet und ihr auseinandersetzte: sie müsse vor allen Dingen