Gabriele Reuter – Gesammelte Werke. Gabriele Reuter. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Gabriele Reuter
Издательство: Bookwire
Серия: Gesammelte Werke bei Null Papier
Жанр произведения: Языкознание
Год издания: 0
isbn: 9783962814076
Скачать книгу
er nicht, wo­für ein je­der sie hal­ten wür­de?

      Das war ihm wohl ganz gleich­gül­tig, auf das Ur­teil der Welt hat­te er nie­mals viel ge­ge­ben. Dort in Zü­rich moch­te auch der Ver­kehr von jun­gen Män­nern und Mäd­chen frei­er sein, als bei ih­nen. Und sie war ja auch nicht mehr jung. Hielt er sie für so ganz un­ge­fähr­lich? – Aber wie wür­de man in der Hei­mat über sie ur­tei­len?

      Im­mer hat­te sie ge­glaubt, der große Mensch, der he­ro­i­scher Ent­schlüs­se fä­hig sei, schla­fe nur in ihr. Jetzt rief Mar­tin ihn mit star­ker Stim­me an. Nun muss­te es sich zei­gen, ob er über­haupt noch da war – nicht längst ver­schrumpft und ver­dorrt.

      Es war schau­er­lich auf­re­gend und an­zie­hend, sich das vor­zu­stel­len: Alle Welt hielt sie für eine Ge­fal­le­ne – nur sie selbst trug das Be­wusst­sein ih­rer küh­len Rein­heit in sich. Und Mar­tin, der hat­te na­tür­lich eine un­be­grenz­te Hochach­tung vor der stil­len Kraft, mit der sie, al­len Ver­läum­dun­gen zum Trotz, den ge­wähl­ten Weg wei­ter schritt. Sol­che Frau war ihm denn doch noch nicht vor­ge­kom­men.

      Er bat sie um Lie­be – bat sie im­mer wie­der – fleh­te – wur­de lei­den­schaft­lich … Sie sah ihn vor sich wie nach Eu­ge­ni­ens Trau­ung, den Kopf in die Gar­di­ne ge­presst – schluch­zend, durch­schüt­telt von wil­dem Ver­lan­gen …

      Aber in eine bür­ger­li­che und nun gar in eine kirch­li­che Trau­ung wür­de er wohl nie­mals ein­wil­li­gen.

      Gott sei Dank – sie lieb­te ihn nicht …

      Nur ir­gend­wie kam ihr der Wunsch, ihre Wan­ge ge­gen sei­ne Hand zu leh­nen, sich von die­ser kräf­ti­gen wei­ßen Hand über Stirn und Brau­en strei­chen zu las­sen.

      Von sol­chen weib­li­chen Schwä­chen durf­te sie nicht träu­men, wenn sie es wa­gen woll­te, ih­ren Plan aus­zu­füh­ren.

      Nun war es mit dem Schlaf in der Nacht über­haupt zu Ende.

      XIV.

      »Die Mäd­chen mit Ta­lent sind doch zu be­nei­den«, klag­te Aga­the ih­rem Vet­ter. »Je­der­mann fin­det be­greif­lich, dass sie es aus­bil­den. So­gar die arme stei­fe Frau von Hen­ning hat ihre Toch­ter nach Pa­ris ge­hen las­sen. Fragt mich mein Va­ter, was in al­ler Welt ich in Zü­rich tun will – ich habe ei­gent­lich kei­ne Ant­wort. Und wer weiß, ob ich mich dort nicht noch über­flüs­si­ger füh­le als zu Haus. Zwar – es ist schon wun­der­schön, ein­mal sein ei­ge­ner Herr zu sein!«

      »Das woll­t’ ich mei­nen«, rief Gref­fin­ger und lach­te herz­lich.

      Aga­the war un­ge­fähr in der Stim­mung, in der sie als Kind auf den Ket­ten am Ka­ser­nen­platz ge­ses­sen und mit den Bei­nen ge­bau­melt hat­te – ein we­nig ängst­lich, ein we­nig be­klom­men, aber doch so heim­lich frech und froh.

      Sie saß ne­ben Mar­tin auf dem Deck des Damp­fers. Durch das blau auf­schäu­men­de Ge­wäs­ser rausch­te ihr Fahr­zeug dem jen­sei­ti­gen Seeu­fer ent­ge­gen.

      Aga­the woll­te mit ih­rem Vet­ter das Hörn­li be­stei­gen. Man soll­te von dem Fels­pla­teau schon auf mä­ßi­ger Höhe einen herr­li­chen Rund­blick ge­nie­ßen. Längst war die Par­tie ge­plant. Aber mit Papa und Mar­tin und Ge­richts­rats – nein. von der Zu­sam­men­set­zung ver­sprach Aga­the sich nicht viel Ver­gnü­gen.

      Nun hat­te Papa einen zwei­tä­gi­gen Aus­flug mit dem Pro­fes­sor und ein paar an­de­ren Her­ren un­ter­nom­men. Mar­tin lock­te Aga­the auf ih­rem Mor­gen­spa­zier­gang wei­ter und wei­ter, bis zum Ufer. Dort lag der Damp­fer be­reit. Und Aga­the hat­te ihm selbst den Vor­schlag ge­macht, mit ihr hin­über zu fah­ren.

      »Du fängst ja schon an. Dich zu eman­zi­pie­ren«, rief er fröh­lich.

      Aga­the be­dau­er­te, dass das Dampf­schiff nicht gleich bis nach Zü­rich fuhr. Heut wäre es ihr leicht ge­wor­den, ih­rer gan­zen Ver­gan­gen­heit, Va­ter und Freun­den und so­li­dem Ruf und al­lem Le­be­wohl zu sa­gen.

      Sie wa­ren bei­de sehr ver­gnügt und schwatz­ten lus­ti­ge Tor­hei­ten. Mar­tin rich­te­te die ver­fäng­li­che Fra­ge an Aga­the, warum sie nicht ge­hei­ra­tet – sie hät­te doch ge­wiss viel Kör­be aus­ge­teilt. Aga­the schüt­tel­te den Kopf. – Sie wäre ge­wiss im­mer zu ab­wei­send ge­gen die Män­ner ge­we­sen? Er er­zähl­te ihr von ei­nem Gym­na­sias­ten, der sich die Buch­sta­ben A. H. mit ei­ner Steck­na­del und blau­er Tin­te auf die Brust tä­to­wiert habe. Aga­the plag­te ihn um den Na­men. Er ver­riet ihn nicht, füg­te nur hin­zu: »Ich war es aber nicht.«

      Aga­the glaub­te doch, dass er es ge­we­sen.

      Mar­tin ver­sprach ihr, wenn sie auf dem Hörn­li wä­ren, soll­te sie Asti zu trin­ken be­kom­men. Er be­trug sich heut über­haupt recht wie ein jun­ger Mann, dem der Kopf voll Toll­hei­ten steckt. Oben­auf dem Hörn­li schrieb er ins Frem­den­buch des Gast­hau­ses: Mark An­ton Grau­si­ger, Wäs­che­fa­bri­kant und Gat­tin. Dar­über ge­riet Aga­the ins Ki­chern wie ein Schul­mäd­chen.

      Vor ih­nen lag in To­ten­stil­le und Mit­tags­duft die Ket­te der schnee­be­deck­ten Ge­bir­ge, der un­ge­heu­ren Fel­sen­mas­sen, de­ren Far­ben im Licht­glanz auf­ge­löst wa­ren. Tief im Tal reck­ten dunkle Wäl­der sich zum Was­ser nie­der, und in fah­lem Blau schlum­mer­te der glat­te See. Nuss­bäu­me ga­ben Schat­ten über ih­ren Köp­fen, und die Wald­re­be klet­ter­te an den Stäm­men em­por, rank­te ihre zier­li­chen Klam­merzwei­ge mit den wei­ßen Blü­ten von Ast zu Ast. Aus ei­nem dunklen Ge­strüpp von Lär­chen und Tan­nen, durch das der Weg sich em­por­wand, hauch­te es zu­wei­len wie ein küh­ler, duf­ten­der Atem­zug über sie hin. Dort blüh­ten Al­pen­veil­chen im Moo­se.

      Es war heiß, und sie wur­den müde und schweig­sam im Ru­hen und Schau­en. Mar­tin hat­te den Hut ab­ge­nom­men, sein Ge­sicht glüh­te, und er trock­ne­te sich die Stirn mit dem Tuch.

      Eine klei­ne Kell­ne­rin brach­te ih­nen das Es­sen und be­dien­te sie. Das fri­sche Ding, rund, weiß und rot wie ein Bors­dor­fer Äp­fel­chen, war ap­pe­tit­lich an­zu­se­hen in ih­rem schwar­zen Sam­met­mie­der und der hel­len Schür­ze. Aga­the und Mar­tin be­ob­ach­te­ten, dass ein plum­per, fett­glän­zen­der Mann mit ei­nem großen Sie­gel­ring am Zei­ge­fin­ger, der sei­ne Mahl­zeit schon be­en­det hat­te, die nied­li­che Klei­ne zu sich wink­te, einen Stuhl her­bei­zog und sie zu­dring­lich nö­tig­te, sich ne­ben ihn zu set­zen und ein Glas Wein mit ihm zu trin­ken.

      Sie ant­wor­te­te un­ge­dul­dig; man konn­te se­hen, es war nicht das ers­te Mal, dass sie sich ge­gen ihn zu weh­ren hat­te. Er ver­such­te, sie am Ro­cke fest­zu­hal­ten, sie be­frei­te sich un­wirsch, schalt derb auf ihn ein und lief da­von.

      Aga­the wand­te die Bli­cke ab. Die Na­tur und ihre ei­ge­ne fro­he Stim­mung wa­ren ihr ent­weiht.

      »Dem Kerl möcht’ ich die Wahr­heit sa­gen«, groll­te Mar­tin zor­nig. »Was solch ar­mes Mä­del zu er­tra­gen hat!«

      Der di­cke alte Phi­lis­ter ging, nach­dem sein Ver­such, ein­mal über die Strän­ge zu schla­gen, miss­glückt war, ver­drieß­lich schnau­fend fort.

      Wie schön! Nun wa­ren sie al­lein und konn­ten un­be­fan­gen schwat­zen.

      Aga­the hör­te es gern, wenn Mar­tin in Ei­fer ge­riet und ihr aus­ein­an­der­setz­te: sie müs­se vor al­len Din­gen