Martin Greffinger lachte hell auf.
»Und Ihr dachtet, ich säße irgendwo im Zuchthaus? Das ist ja ausgezeichnet! – Wer waren die Herren?«
»Professor Bürkner aus Zürich.«
»So – ja! Der hat mein Buch der Freiheit besprochen. – Ist er noch hier?«
»Ja – er hat sich mit Papa angefreundet. Sage nur, Martin – bleibst Du heut Abend?«
»Heut Abend?« rief Greffinger vergnügt, »ich habe mich vorhin für eine Woche hier in Pension gegeben.«
»Ach, das ist hübsch!«
»Ihr wohnt auch hier im Haus?«
»Ja.«
Ein Schatten ging über Greffingers charaktervolles Gesicht. Seine Augen blickten nachdenklich zu Boden. Und als sie dann wieder auf seiner Cousine weilten, war die Freude und der Glanz aus ihnen verschwunden.
*
Das Urteil des schweizer Professors über Greffinger blieb nicht ohne Einfluss auf den Ton, in dem der Regierungsrat Heidling seinen Neffen begrüßte. Martin schien sich ja doch aus seinen früheren Verirrungen herausgearbeitet zu haben! Man befand sich zudem im Ausland, und an der Carriere war nichts mehr zu verderben. Der Regierungsrat unternahm es, die Herren mit Greffinger bekannt zu machen.
Bei dem schwankenden Schein der Windlichter verlebte man einen vergnügten Abend unter der Edelkastanie des Hotelgartens.
Goldenen Asti im Glase, stieß Greffinger mit Agathe an, auf ihr Wiedersehen in der freien Schweiz.
Eine Fülle von Kindheitserinnerungen überkamen den Heimatlosen – ein Gedenken an die ersten beklemmenden süßen Gefühle, an den ersten Sinnenrausch, den das Mädchen da neben ihm geweckt … Was hatte er empfunden, als sie miteinander den Herwegh deklamierten im sommerheißen Parke von Bornau!
Er fand plötzlich wieder Interesse für alle die Menschen, an die er jahrelang nicht gedacht.
»Wie geht es Eugenie?«
»Drei Kinder – und Walter wird demnächst Hauptmann.«
»Mimi? – Diakonissin? Wenn es sie glücklich macht. Der Geschmack ist verschieden!«
»Und Du, Agathe, wie lebst Du?«
»Wie’s so geht … Onkel Gustav war krank, ein halbes Jahr, dann Mama ein Vierteljahr.«
»Du hast es schwer gehabt.«
Es antwortete ihm kein Blick. Ihre Augen senkten sich, und ihr verblühtes Antlitz wurde noch dürftiger und spitzer.
»Agathe, soll ich Dich morgen auf dem See rudern?«
»Ach Martin, willst Du wirklich?«
*
Sie fuhren auf dem Wasser, oder sie saßen in der Veranda der kleinen Wirtschaft unten am See und sprachen mancherlei. Agathe war dem Professor Bürkner unendlich dankbar, dass er ihren Vater zu weiten Ausflügen beredete, an welchen Damen nicht teilnehmen konnten. Auch Martin hielt sich zurück. Er hatte zu arbeiten. Dann kam er später und holte Agathe ab. Der Gerichtsrätin ältliche Tochter sah ihnen neidisch nach.
Greffinger behandelte Agathe wie eine alte Freundin, der man Vertrauen schenken konnte.
Und sie war nicht verliebt in ihn – Gott sei Dank!
Aber was er ihr von seinem Leben, seinem Streben und Denken sagte, interessierte sie brennend und regte sie beinahe ebenso auf, als machte er ihr den Hof. Es war ihr alles so neu, so überraschend, so ganz verschieden von dem, was sie sich vorgestellt hatte.
Die Parteibande der Sozialdemokratie hatte er schon längst durchbrochen.
»Das ist auch ein Wahn und eine Form der Tyrannei, die die arme Menschheit erst gründlich durchkosten und dann überwinden muss …«
Warum er Agathe so tief in sein absonderliches Grübeln hineinsehen ließ? Das fragte sie sich mit Verwunderung. Sie konnte ihm selten antworten, sie redete nicht seine Sprache. Sie verstand seine Ausdrücke oft nicht einmal und stellte sich etwas anderes unter seinen Worten vor, als er meinte.
Und doch erfüllte seine Freundschaft sie mit tiefer, heißer Befriedigung.
… Nein, sie liebte Martin nicht, Gott sei Dank.
Darum konnte sie ihm auch viel von dem sagen, was sie bedrückte. Nicht alles. Aber von dem Verhältnis zu ihrem Vater sprach sie, und er hörte den angesammelten Zorn in ihrer Stimme klingen.
»Der alte Mann wird Dich stets an allem hindern, womit Du Dir helfen willst. Wenn er seinen Bücherschrank vor Dir abschließt, und wenn er Dir das Leben abschließt … Du musst Dich von ihm frei machen! Geh’ von ihm fort und suche Dir Arbeit und Freude, die Dich befriedigt.«
»O Martin! Das ist ganz unmöglich.«
»Ja – Du fühlst Dich doch unglücklich bei ihm. Man sieht es Dir an. Dein Dasein ist unerträglich. Gut – so ändere es.«
»Aber lieber Martin, sei doch nur vernünftig. Wie soll ich denn plötzlich meinen Vater allein lassen – ohne Geld und ohne Kenntnisse in die weite Welt hineinlaufen? Er braucht mich. Wer soll ihn erheitern und pflegen? Da draußen in der Fremde, da braucht mich niemand.«
»Nein!« antwortete Martin sehr ernst, »da braucht Dich niemand, und Du wirst Zeit bekommen, Dich endlich einmal auf Dich selbst zu besinnen – Dich wiederzufinden – die Du Dich ganz verloren hast!«
»Damit fänd’ ich auch was Rechtes!« klagte Agathe kleinlaut.
»Kannst Du noch gar nicht wissen! Glaube mir, es ist sehr überraschend, sich selbst kennen zu lernen.«
Sie wollte ihm doch zeigen, dass es wert sei, sich um ihr Wohl zu sorgen. Ging er, müde und abgearbeitet, nur schweigend neben ihr, so begann sie, ihm vorzuplaudern. Die kleinen Künste wendete sie auf, mit denen sie ihren Vater unterhielt. Das war nun ein Gebiet, auf dem sie Übung besaß. Sie konnte mit harmlos-drolligen Bemerkungen auch Martin oft zum Lachen reizen und seine düstern Stimmungen verscheuchen.
Der Regierungsrat sah den Umgang seiner Tochter mit Martin nicht ungern. Es war ihm eine tiefe Kränkung gewesen, dass der Sohn seiner einzigen Schwester sich so ganz seinem Einfluss entzog. Vielleicht war er jetzt durch die Tochter wiederzugewinnen.
»Diesen jungen Männern, die toll ins Leben stürmen, tut es am Ende doch wohl, einmal wieder mit gebildeten Frauen zu verkehren«,