Später am Abend fragte sie Wiesing, ob sie nicht zu ihren Eltern gehen könne, ob sie nicht sagen wolle, ihre Mutter wäre krank und brauche sie. Aber das kleine Hausmädchen schüttelte den Kopf und antwortete mit unbegreiflicher Ergebung: »Ach, wat meinen Frölen, – mien Modder wull mi schön schelten, wenn ik nach Hus käme. Un’ Dorte seggt ok, dat’s all gliek bei de Herrschaften. De jung’ Herr hat ja och woll bald Hochtied und dann kümmt he jo ok weg.«
Was konnte Agathe weiter tun? Sie hoffte, dass ihr Bruder einen Eklat fürchten würde. Aber sie hatte jeden Maßstab für die Berechnung der Möglichkeiten verloren.
Sie konnte sich nicht entschließen, Wiesing jemals wieder nach dieser Angelegenheit zu fragen, doch nannte sie sie von nun ab wie die Mutter »Luise« Es war für sie etwas Gemeines an dem Mädchen haften geblieben.
IX.
Agathe war nun schon zwanzig Jahre alt.
Die Regierungsrätin freute sich recht, als im Februar eine entfernte viel jüngere Verwandte, mit der sie hin und wieder kurze Briefe wechselte, die Bitte an sie richtete, ihr das Töchterchen für einige Wochen zu schicken. Agathes Fotografie habe in ihr den Wunsch erweckt, sie kennen zu lernen.
Die Cousine, die, zur Malerin ausgebildet, einen polnischen Künstler, Kasimir von Woszenski, geheiratet hatte, galt bei Heidlings für geistig anregend, ja für genialisch. Dabei waren die Familienverhältnisse des Ehepaares doch so solide gefestigt, dass selbst der Regierungsrat nichts Ernstliches gegen einen Besuch der Tochter einwenden konnte. Aber es gefiel ihm nicht, sie von seiner Seite zu lassen. Er war an ihr Schwatzen und Lachen, an das Gehen und Kommen all der jungen Mädchen um ihn her gewöhnt. Er mochte diesen leichten anmutigen Reiz in seinem trockenen, arbeitsvollen Berufsdasein nicht entbehren – auch nicht für vier Wochen. Er sah nicht ein, wozu er eine Tochter habe, wenn sie auf Reisen gehen wollte.
Unsicher bemerkte die Rätin: Agathe könnte doch da vielleicht jemand kennen lernen … jemand mit Vermögen.
Der Regierungsrat wurde sehr zornig. Er habe nicht nötig, seine Tochter verschachern zu lassen; er könne selbst für seine Tochter sorgen, und sie brauche durchaus nicht zu heiraten.
So hatte es ja die Rätin nicht gemeint. Sie wollte etwas andeuten, was sie nicht zu sagen wagte, weil es ihr unzart vorkam. Agathes Wesen, das gegen die jungen Männer ihres Kreises immer steifer und verschlossener wurde, bekümmerte die Mutter. Agathe hatte durch hochmütige Nichtachtung schon mehrere Herren, die sich ihr auffällig zu nähern suchten, verletzt und zurückgestoßen. Die Rätin wusste nicht von der Erfahrung, die Agathe an ihrem Bruder gemacht hatte, und die auf ihr ruhte, wie ein Unrecht, an dem sie durch ihr Verschweigen mit schuldig geworden war. Die Rätin wusste auch nichts von den Beziehungen Lord Byrons zu ihrer Tochter.
In ihrem, durch die Sorgen um einen weitläufig und umständlich geführten Haushalt, von den Erinnerungen an ihre toten Kinder und von ihrem Nervenleiden gequälten Kopf war längst ein Zustand der Ermattung eingetreten, der es ihr unmöglich machte, Ursache und Wirkung irgend welcher Verhältnisse zu übersehen, eine Gedankenfolge klar und scharf zu Ende zu führen. Aber je schwächer ihr ursprünglich nicht armes Verstandesvermögen wurde, desto mehr steigerte sich die Ahnungsfähigkeit ihres Gemütes, das mit unendlich feinen Gefühlstastern den verborgensten Stimmungen ihrer Lieben nachspürte und sie leidend mitempfand. Sie seufzte, sobald die Rede auf Walters und Eugeniens Hochzeit kam, und doch war für alle Freunde der Familie in dem bevorstehenden Ereignis eitel Freude für ein Mutterherz zu sehen. So fühlte Frau Heidling auch jetzt, dass eine Zerstreuung, ein Wechsel der Eindrücke für Agathe heilsam sein werde. Sie hatte nicht ohne Absicht die letzte schöne Fotografie des Mädchens dem Malerehepaar geschickt. Weil sie keine überzeugenden Gründe vorbringen konnte, suchte sie ihr Ziel mit stillem Eigensinn zu erreichen.
Frau Heidling eröffnete ihrer Tochter mit betrübtem Gesicht, der Vater habe entschieden, wenn sie reisen wolle, so könne sie die Kosten von ihrem Taschengelde tragen.
»Papa weiß ja gar nicht, dass Du Dir was gespart hast«, fügte sie mit einem schelmischen Triumph hinzu. »Zwanzig Mark gebe ich Dir aus der Wirtschaftskasse – die kann ich gut erübrigen! Da muss er es doch erlauben! – Freust Du Dich nicht auf die Reise?«
Agathe blickte ihre Mutter verstört und erschrocken an.
Ja – sie hatte sich einen kleinen Schatz erspart …
Schon lange trug sie in Gesellschaften keine Glaceehandschuhe mehr, sondern Halbseidene, und auf Spaziergängen sogar Baumwollene. Machten die jungen Damen einen Abstecher zum Konditor, so wusste sie sich auf irgend eine Weise zurückzuziehen, und ihre Geburtstagsgeschenke waren geradezu mesquin. Die öffentliche Meinung beschäftigte sich bereits mit der augenfälligen Vernachlässigung ihrer sonst so gepflegten Erscheinung und mit der Veränderung ihres sorglos generösen Charakters.
Da der Wortschatz der jungen Mädchen kein allzu reichhaltiger war, wurden zwei Ausrufe bald von Lisbeth Wendhagen, bald von Fräulein von Hennig, dann wieder von Kläre Dürrheim oder von Eugenie als neueste Beobachtung preisgegeben.
»Kinder, was sagt ihr nur zu Agathe? –«
»Ich finde das eigentlich …«
Der Grad von Missbilligung, von Entrüstung schien so stark zu sein, dass er nur durch eine unheimliche Pause hinter dem »eigentlich« … recht zur Geltung gebracht werden konnte.
Agathe sparte für eine Reise nach England. Sie wollte ihres toten Lieblings Grab besuchen, an den Stätten wandeln, wo er geatmet und gesungen – wo er das Leben gelitten und genossen hatte.
Ach – und wie lange dauerte es, bis aus den einzelnen Nickel- und Silbermünzen ihres Taschengeldes auch nur ein Goldstück eingewechselt werden konnte. Auf dem Grunde des Kästchens, in dem Agathe ihren Schatz bewahrte, lag ein Zettel, der in gotischen Buchstaben den Spruch enthielt: Vernunft, Geduld und Zeit macht möglich die Unmöglichkeit. Wenn Agathe ihn las, war ihr zu Mute, als nähme sie einen Schluck Chininwein.
Mit nervöser Lust fühlte sie das Geld zwischen ihren Fingern, das ihr endlich ein Erlebnis bringen sollte – das große Erlebnis, nach dem ihr ganzes Wesen gespannt war. Vielleicht erlaubten ihr die Eltern die Reise nicht – vielleicht musste sie heimlich gehen und durfte dann niemals wiederkommen … Sie besann sich, ob irgend etwas in dem Kreise