»Ich weiß es nicht, Doc. Wenn Sie wollen, sehe ich mich mal um.«
»Tun Sie das, Phin«, rief ihm Luke Short zu, »und möglichst noch vor Weihnachten!«
Da wurde die hinter Phin wieder zugefallene Fliegentür aufgestoßen, und der Rancher stand im Türrahmen.
Doc Hollidays Blick flog sofort zu der verkrusteten Blutspur an seiner Stirn.
Die Männer blickten einander einen Moment stumm in die Augen.
Als hätte er einen Ladestock im Kreuz, so steif saß der Spieler im Sattel. Ohne Übergang schoß er dem Rancher die Frage entgegen:
»Wo ist Wyatt Earp?«
»Ich weiß es nicht.«
In den eisblauen Augen des Georgiers blitzte es auf.
»Hören Sie zu, Ike, es ist vielleicht nicht wichtig, was wir beide voneinander halten, aber ich hatte bis heute geglaubt, daß Sie zu stolz wären, zu lügen.«
»Ich lüge nicht, Doc!«
»Können Sie mir dann vielleicht sagen, woher Sie die Wunde an Ihrer Stirn haben?«
»Ich glaube nicht, daß Sie das interessieren wird.«
»Es interessiert mich sogar sehr, Ike, denn als Wyatt Earp heute nacht überfallen wurde, schoß er noch auf den Mann, der ihn hinterrücks mit einem Gewehrkolben niedergeschlagen hat. Der Mann wurde an der Stirn verletzt. Das ist von einem Augenzeugen ganz deutlich beobachtet worden.«
Eine dunkle Röte trat in das Gesicht des einstigen Bandenführers. Er schob Phin wie einen lästigen Stuhl beiseite und trat an die Kante des Vorbaus, wo sein Gesicht etwa in gleicher Höhe mit dem des Spielers war.
»Ich habe nichts mit dieser Sache zu tun, Doc Holliday. Ich will Ihnen nur noch sagen, wenn mir jemand erzählen würde, Doc Holliday hätte einen Mann mit einem Gewehrkolben von hinten niedergeschlagen, daß ich das nicht glauben würde.«
Holliday preßte die Linke um den Sattelknauf; forschend ruhte sein Blick auf dem Gesicht des Ranchers.
Da wandte Isaac Clanton sich um und ging ins Haus zurück.
»Damit ist das für ihn erledigt«, knurrte Luke Short ärgerlich.
»Sie können ja zu ihm hineingehen und noch ein paar Stunden mit ihm reden«, meinte der Georgier. »Sie werden doch nichts aus ihm herausbringen.«
»Sie glauben ihm also?«
»Glauben? Ich weiß nicht, aber ich komme mir plötzlich ziemlich dumm vor, daß ich hierhergekommen bin. Denn wenn ich es richtig bedenke, paßt es tatsächlich nicht zu ihm, einen Mann ohne Not von hinten niederzuschlagen.«
»Aber seine Leute waren ja in Bedrängnis.«
»Erstens wissen wir nicht, ob es seine Leute waren, und zweitens würde es trotzdem nicht zu Ike Clanton passen, einen Mann von hinten niederzuschlagen.«
Phin hatte sich zur Vorbauecke entfernt.
Aus haßerfüllten Augen blickte er den beiden Reitern nach.
Der Texaner wandte sich um und rief ihm zu:
»Vielleicht treffen wir uns ja einmal wieder, Phin!«
Phineas Clanton verzog den Mund. Zu einer Antwort hatte er nicht den Mut.
*
Wyatt war gut vorwärtsgekommen, trabte jetzt vor seinen drei reiterlosen Tieren her durch ein schier endloses, aber niedriges Kakteenfeld, das von schweren Gesteinsbrocken durchsetzt war, die typisch für diese Landschaft vor den Blauen Bergen waren.
Der Himmel überzog sich schon mit dem Purpurviolett des Abends und im Westen standen einige Silberstreifen am Firmament.
Der Reiter fühlte sich hundeelend. Zwar schmerzte sein Kopf nicht mehr so stark, und auch der beißende Schmerz der Schnittwunde im Arm hatte nachgelassen, aber trotzdem fühlte er sich wie zerschlagen. Brennender Durst quälte ihn. Da glaubte er auf einmal links oben zwischen zwei hohen Gesteinsbrocken die Gestalt eines Reiters bemerkt zu haben.
Der schwarze Tag schien für den Marshal noch nicht zu Ende zu sein, denn in diesem Augenblick brach sein Pferd mit dem rechten Vorderlauf in einen halbverschütteten Präriehasenbau, überschlug sich, und der Reiter wurde so unglücklich abgeschleudert, daß er benommen vor einem Mesquitestrauch mit dem Gesicht nach unten liegen blieb.
Wyatt war jedoch nicht ohne Besinnung. Er vernahm das ungeduldige Stampfen der Pferde neben sich, und dann drang harter trommelnder Hufschlag an sein Ohr, der rasch näherkam.
Aufspringen! hämmerte es in seinem Hirn.
Aber eine bleierne Schwere hielt ihn mit Titanenkräften am Boden fest. Er lag wie im Starrkrampf da.
Der Hufschlag verstummte dicht neben ihm. Hastig sprang der Reiter aus dem Sattel.
Wyatt hörte seine Stiefel im Sand knirschen.
Dann kniete der Mann neben ihm nieder.
»Stones! He, was ist passiert?«
Die Stimme! Sie drang dem Marshal bis ins Mark. Träumte er vielleicht? War es ein Spuk, der ihm die Stimme ausgerechnet desjenigen Mannes hier vorgaukelte, den er jetzt am allerwenigsten gebrauchen konnte.
»Stones! Damned, Mensch!« rief der andere und riß Wyatt herum, daß das gelbe Halstuch einriß.
Mit einem Schlag hatte Wyatt seine Glieder wieder in der Gewalt. Vielleicht hatte er nur dieses harten Herumreißens bedurft.
In seiner Rechten blinkte der Smith & Wesson Revolver.
Und der Mann, der bei seinem Anblick zurückgefahren war, starrte ihm fassungslos ins Gesicht!
Es war Ike Clanton!
Er trug einen hellgrauen Hut, ein weißes Hemd und einen dunkelgrauen Anzug. Die schwarze Samtschleife war sauber gebunden und fiel bis auf die Rockaufschläge.
»Sie?« stammelte der Rancher.
Wyatt schluckte, seine Lippen waren voller Sand, und Staub war in seinen Mund gedrungen.
»Ja, ich, Ike.«
»Ich… hielt Sie für Stones!«
»Ich habe es gehört. Er ist einer Ihrer Leute, nicht wahr?«
»Ja, ein Cowboy von uns. Er arbeitet auf dem Vorwerk am Blue Lake.«
Immer noch stand grenzenlose Verwunderung im Gesicht des Bandenführers.
»Was starren Sie mich so an?« kam es heiser über die Lippen des Marshals.
»Ich… hielt Sie für tot!«
»Kann ich mir denken. – Dafür ist Ihr Freund Stones tot…«
Wie ein Gespenst hing sich plötzlich eine drohende Ohnmacht auf den Missourier und schob graurote Schleier vor seine Augen, hinter denen das Gesicht des Bandenführers mehr und mehr verschwamm.
Ich muß schießen! Schießen! Ehe er es tut… Doch der Alarmruf im Hirn des Marshals vermochte keine Bewegung mehr bei dem so schwer angeschlagenen Mann auszulösen.
Wyatt sah jetzt große rote Nebelschwaden vor seinen Augen, hörte Hufschlag und glaubte in ein endloses Meer zu versinken, aus dem es kein Aufsteigen mehr gab.
Aber dann, nach einer Ewigkeit, wichen die Schleier einem helleren Ton, färbten sich rotviolett, und der Marshal hörte die Stimme eines anderen Mannes, spürte zwei Arme, die ihn in sitzende Stellung hochzogen, zwei Hände, die ihn abtasteten.
Es war Doc Hollidays Stimme, die er jetzt zu hören glaubte. Aber sie schien aus unendlich weiter Ferne zu kommen. Es mußte ein Trug sein, eine Gaukelei der Phantasie.
Da schlug er die Augen auf – und blickte in das harte kantige Gesicht des Georgiers!
Also doch!